Wie wollen wir als Gesellschaft in der Zukunft leben, wie würden wir gerne, wie können wir? Wie können wir wirtschaften, ohne Arbeit zu unserem einzigen Lebensinhalt zu machen und die Erde zu zerstören? Unser Chefredakteur Eric Hartmann stellt positive Utopien für Gesellschaften vor.

 

Vor einigen Jahren fand ich im Internet ein Gespräch von Richard David Precht mit der Politikerin Sahra Wagenknecht über positive Gesellschaftsentwürfe, über Utopien einer besseren Gesellschaft, die als Ziel für gesellschaftliches und politisches Engagement herhalten könn(t)en. Ein spannendes Thema, das bei mir umso mehr Enttäuschung hervorrief, als sich abzeichnete, dass Frau Wagenknecht nicht den Ansatz einer Idee hat, wie eine positive Utopie der Gesellschaft aussehen könnte. Über reformpolitische Anpassungen geht hier kein Gedanke hinaus – ganz nach dem Motto „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Dabei sind es genau diese positiven Gesellschaftsentwürfe, die der heutigen politischen Auseinandersetzung fehlen. In einem in vielen Jahren entwickelten Narrativ unterwerfen wir uns den Sachzwängen, den alternativlosen politischen Entscheidungen, dem unaufhaltbaren technischen Fortschritt und seinen Konsequenzen, die wir weder gestalten noch verhindern, sondern lediglich (hoffentlich) abschwächen und erträglich machen können – wenn überhaupt.

In diesem Narrativ sind die Entwicklungen bereits klar gesetzt. Unumstößlich werden die bestehenden Trends analysiert und zur Grundlage eines angepassten Agierens gemacht. Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Wir drehen uns im Wind, um einen möglichst geringen Widerstand darzustellen. Für die Frage, wie wir eigentlich leben wollen, ist hier kein Platz.

Wer sollte diese Frage auch stellen? Die konservative Politik hatte nie ein Interesse an der Gestaltung der Gesellschaft. Seinem Wesen nach will der Konservativismus bewahren, was schon vorher da war. Entwicklung und Fortschritt sind die Probleme, mit denen sich der/die Konservative herumschlagen muss, um sie im Zaum zu halten.

Mittlerweile haben auch die sozialdemokratischen und linken Parteien Europas zu großen Teilen kein anderes Ziel mehr, als die als Problem verstandene Entwicklung der Gesellschaft möglichst abzuschwächen, wobei linke Kernthemen immer mehr an Bedeutung verlieren.

Aus dem Kampf um Rechte und soziale Teilhabe ist ein Reagieren auf „Sachzwänge“ geworden, die scheinbar immer weitere und stärkere Einschränkungen der ArbeitnehmerInnenrechte legitimieren. In Deutschland ist die Sozialdemokratie stolz darauf, den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen zu haben. Die stärkste Artikulation einer gesellschaftlichen Utopie besteht in der Forderung nach 12 Euro Mindestlohn.

Zumindest in der Politik wird diese Frage also nicht zum Thema gemacht. Und doch wird seit einigen Jahren von verschiedenen Seiten versucht, eine Debatte darüber anzustoßen, wie wir eigentlich zusammenleben wollen, wie unsere Gesellschaft aussehen soll, welche ökonomischen Entwicklungen und welchen technischen Fortschritt wir eigentlich wollen und welche nicht.

Die AkteurInnen dieser Debatte stammen dabei meist aus der Wissenschaft oder der Zivilgesellschaft und obwohl sie von der Politik und großen Teilen der Bevölkerung bisher ungehört sind, haben sie doch einige spannende Ansätze entwickelt. Ich will zwei dieser positiven Gesellschaftsentwürfe vorstellen.

 

Post-Wachstum

Wir leben in einer Zeit, in der möglichst viel Besitz und möglichst viel Konsum mit einem guten Leben gleichgesetzt wird. Immer mehr und immer die neusten Sachen zu besitzen und zu konsumieren ist unterhinterfragte Leitlinie des Alltags und der Wirtschaft, die uns in hunderten von Werbespots, Texten, Filmen oder auch YouTube-Videos nahegebracht wird.

Was für Konsequenzen dieses Konsumverhalten hat, ist dabei meist irrelevant. An diesem Punkt setzt die sogenannte Post-Wachstumsbewegung an. Sie hinterfragt den ungezügelten Konsum aufgrund verschiedener Überlegungen.

Auf individueller Ebene argumentieren VertreterInnen des Post-Wachstums, dass wir Menschen gar nicht in der Lage sind, die vielen Dinge, die wir besitzen, regulär zu verkonsumieren. Wir häufen zwar immer mehr Konsumgegenstände an, aber dabei bleibt die freie Zeit, die wir zum Konsum nutzen könnten, konstant oder geht sogar zurück. Wir sind gar nicht in der Lage, den Dingen, die wir kaufen und besitzen, die notwendige Zeit zu schenken.

Der Ökonom Niko Paech nennt dieses Phänomen „Konsumverstopfung“: Wir haben immer mehr Möglichkeiten, aber de facto nicht ansatzweise die notwendige Zeit. Sicherlich ist eine bestimmte Grundlage an Versorgung mit Gütern notwendig, um zufrieden sein zu können.

Aber sobald ein bestimmtes Maß an Konsum und Besitz überschritten ist, sind Konsum und Besitz nicht mehr in der Lage, unser Wohlbefinden zu steigern. Im Gegenteil: Durch die hohe Belastung in der Arbeit, die notwendig ist, um immer mehr Geld für immer mehr Konsumgüter ausgeben zu können, steigt die Zahl an psychischen Erkrankungen massiv an.

Auch auf ökonomischer Ebene gibt es Probleme, die mit unserem Kauf- und Konsumverhalten einhergehen. Seit der Studie „Grenzen des Wachstums“ ist es kein Geheimnis mehr, dass die Ressourcen unserer Erde endlich sind und wir diese irgendwann (früher oder später) aufgebraucht haben werden. Grenzenloses Wachstum in einer begrenzten Welt ist schlicht und einfach unmöglich, wir gelangen immer weiter an eine natürliche Grenze. Dabei produzieren wir immer verheerendere Nebenfolgen: Wir schädigen die Umwelt massiv und zerstören sie unwiederbringlich, von der Ausbeutung unserer Mitmenschen ganz zu schweigen.

Es gibt also allerlei Probleme, die aus unserem momentanen Kauf- und Konsumverhalten resultieren. Die Post-Wachstumsbewegung stellt diesem Status Quo den Entwurf einer anderen Gesellschaft gegenüber: Das Produzieren, Kaufen und Konsumieren von Gütern muss aus dieser Perspektive stark reduziert werden. Diese Reduktion wird dabei nicht als Verzicht verstanden, da der Kauf und der Konsum von Gütern wie oben dargelegt ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zur Steigerung unseres Wohlbefindens beiträgt, viel mehr schädlich ist und wir weiterhin gar nicht genug Zeit haben, unserem Besitz genug Aufmerksamkeit zu schenken. Die Reduktion des Besitzes und des Konsums wird stattdessen als Auflösung der „Konsumverstopfung“ und als „Befreiung vom Überfluss“ verstanden, die den Menschen eine bessere Lebensqualität beschert.

Wer weniger konsumiert und besitzt, gibt auch weniger Geld aus. Wer weniger Geld ausgibt, muss auch weniger arbeiten (im Sinne von Erwerbsarbeit). Durch eine Reduktion von Produktion, Produktkauf und Konsum müssen die Menschen in diesem Gesellschaftsentwurf weniger Erwerbsarbeit leisten.

Nach Niko Paech reichen in der Post-Wachstums-Gesellschaft 20 Stunden Erwerbsarbeit pro Woche aus, um genug Geld zu verdienen, um die notwendigen Güter zu kaufen, die das gute, konsumreduzierte Leben ermöglichen. Die restliche Zeit kann genutzt werden, um beispielsweise selbst Gemüse anzubauen, kaputte Gebrauchsgüter zu reparieren oder sich weiterzubilden. Auch die Selbstverwirklichung kommt dabei nicht zu kurz.

Da der Bedarf massiv zurückgeht, kann wie gesagt auch die Produktion reduziert werden. Eine nachhaltige Wirtschaftsweise kann eingerichtet werden, die die reduzierten Güteranforderungen erfüllt, aber auf Nachhaltigkeit und Langlebigkeit der Produkte ausgerichtet ist. So wird der Ressourcenbedarf der Menschen an die Begrenztheit der Ressourcen und die Notwendigkeit des Schutzes der Umwelt angepasst. Da diese Form des Wirtschaftens erheblich dezentraler ist und die Güterversorgung nicht von wenigen großen Unternehmen abhängig ist, wird die gesamte Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Krisen (Resilienz).

Weniger Besitz, weniger Konsum, weniger Arbeit, weniger Umweltzerstörung und Ausbeutung. Mehr freie Zeit, mehr sinnvolle Betätigung, mehr Resilienz und mehr Nachhaltigkeit. Das ist die Vision der Post-Wachstums-Gesellschaft.

 

Gemeinwohlökonomie

Die Gemeinwohlökonomie beschäftigt sich weniger mit unserem Konsum und der individuellen Ebene, sondern stärker mit der Produktion und dem Wirtschaftssystem, in dem wir Leben. Christian Felber, Aktivist bei Attac und Initiator der Gemeinwohlökonomie, argumentiert, dass es eine grundsätzliche Vertauschung von Mittel und Zweck im modernen Wirtschaftssystem gibt. So ist das Wirtschaften historisch ein Mittel zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Dieses Verständnis von Wirtschaft als Mittel findet sich auch in den Verfassungen verschiedener Staaten, die das Gemeinwohl als Zweck des Wirtschaftens definieren.

In der heutigen Zeit können wir aber beobachten, dass die Wirtschaft nicht zum Zweck des Gemeinwohls betrieben wird. Stattdessen ist die Wirtschaft Selbstzweck geworden. Die adäquate Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ist dabei höchstens Nebenprodukt, ein notwendiges Mittel, um die Kapitalakkumulation zu ermöglichen. Um Gemeinwohl geht es in dieser Form des Wirtschaftens schon lange nicht mehr.

Die Gemeinwohlökonomie möchte das ändern und die Wirtschaft wieder auf den Platz verweisen, für den sie vorgesehen ist. Die Wirtschaft soll ein reines Mittel zum Zweck der Förderung des Gemeinwohls sein. Kapitalakkumulation ist kein Zweck des Wirtschaftens, sodass das Wirtschaften auch kein von den Bedürfnissen der Menschen abgekoppelter Selbstzweck werden kann.

Diese Ausrichtung der Wirtschaft auf das Gemeinwohl soll durch die sogenannte Gemeinwohlbilanz erreicht werden. Alle Schritte in der Produktion werden hier bilanziert. Das Kriterium ist hierbei nicht die wirtschaftliche Refinanzierung, sondern die Gemeinwohlverträglichkeit. Basiert eine Unternehmung beispielsweise auf Kinderarbeit, zerstört sie in hohem Maße die Umwelt oder beschränkt sie die Rechte der ArbeitnehmerInnen, so führt das zu einer schlechten Gemeinwohlbilanz. Werden hingegen ArbeitnehmerInnenrechte adäquat umgesetzt und die Umwelt geschont (etc.), so ist das Ergebnis eine hohe Gemeinwohlbilanz.

Auf Grundlage dieser Gemeinwohlbilanz entscheidet der Staat über Steuern und Subventionen. Unternehmen mit schlechter Gemeinwohlbilanz werden strukturell benachteiligt, während Unternehmen mit guter Gemeinwohlbilanz starke Vorteile und Vergütungen erhalten. Nur Unternehmen mit einer guten Gemeinwohlbilanz können sich langfristig refinanzieren, sodass ein starkes Interesse der Unternehmen besteht, eine möglichst gute Gemeinwohlbilanz zu erhalten.

Auch auf anderen Gebieten müssen laut der Gemeinwohlökonomie strukturelle Änderungen erfolgen. So sollen ArbeitnehmerInnen stärker an Unternehmen partizipieren und Einfluss üben können. Die Ausschüttung von Gewinnen an Anteilseigner sollen reduziert werden. Auch die Kreditvergabe von Banken soll nicht mehr rein auf Grundlage der finanziellen Refinanzierung, sondern mit Blick auf das Gemeinwohl vergeben werden.

Eine Wirtschaft, die das Gemeinwohl im Blick hat, statt die Kapitalakkumulation. Eine Wirtschaft, in der die Menschen direkt an ihrer Arbeit mitentscheiden können. Eine Gesellschaft, die von der Arbeit der Menschen profitiert und in der das Primat des Gemeinwohls, nicht das Primat der Wirtschaft gilt. Das ist die Vision der Gemeinwohlökonomie.

 

Fazit

Es ist klar, dass diese Ansätze nicht die Lösungen für alle Probleme der Menschheit sind. Es handelt sich hier nicht um Komplettlösungen, die nur noch umgesetzt werden müssen und auf einen Schlag wird alles gut. Es handelt sich um Visionen, um Überlegungen, wie wir als Individuen und als Gesellschaft (zusammen-)leben wollen, welche Entwicklungen wir fördern und welche negativen Trends wir verhindern wollen.

Es handelt sich um zwei Beiträge in einer Debatte, die längst überfällig und die notwendig ist, um gesellschaftlichem und politischen Engagement wieder den Stellenwert zu geben, den es verdient. Denn die Gestaltung der Gesellschaft darf nicht den „Sachzwängen“ überlassen werden.

 

Von Eric Hartmann

Dieser Artikel erschien zuerst in der Printausgabe zum Sommersemester 2018 mit dem Thema “Zeit”.