Knapp vier Jahre ist es nun her, dass der Schwedische Sprachenrat im April 2015 das geschlechtsneutrale Pronomen ‘hen’ in seine offizielle Wortliste aufnahm. Dieses aus dem Finnischen abgeleitete Wort fügt sich perfekt in die schwedischen Personalpronomina ‘han’ und ‘hon’ ein und dient dabei nicht nur als Ersatz für ‘han eller hon’ – ‘er oder sie’ in Fällen in denen das Geschlecht der Person nicht bekannt oder nicht relevant ist – sondern wird auch ganz explizit von eben jenen genutzt, deren Geschlecht außerhalb des gewohnten Zwei-Geschlechter-Systems verortet liegt. Man spricht dabei dann von nicht-binären Geschlechtern.

 

Jetzt werden sich manche wohl fragen: „Hä? Nicht-binär? Außerhalb?! Es gibt doch nur zwei Geschlechter?!!“, woraufhin entgegnet werden muss, dass das ein Irrtum ist, der noch weit verbreitet und in Deutschland durchaus auch sprachlich bedingt ist. Wie auch die romanischen und slawischen Sprachen ist die deutsche Sprache sehr geschlechtsbezogen. So fallen alle Wörter in die Kategorien Maskulinum, Femininum und Neutrum, wovon für gewöhnlich nur die ersten beiden für Menschen gedacht sind. Es mangelt also zwischen Maskulinum und Femininum an Möglichkeiten, sich auf Menschen zu beziehen. Dementsprechend fällt es vielen dann auch schwer, so etwas gedanklich zu berücksichtigen.

Doch ‘Geschlecht’ ist da schon ein ganzes Stück komplexer. Traditionell wird in der westlichen Welt in zwei Geschlechtskategorien gedacht, die stark an Körperlichkeiten gebunden sind. Wer also aussieht wie eine Frau, ist eine Frau, wer aussieht wie ein Mann, ist ein Mann. Abseits davon gibt es nichts.

Nun ist das aber nicht ganz so einfach. Schaut man zum Beispiel mal über den Rand Europas hinaus, stellt man fest, dass viele außer-(west)europäische Kulturen noch weitere Geschlechter kennen, die außerhalb dieser Binärität liegen. Viele Stämme der Ureinwohner Nordamerikas kennen die so genannten two-spirits, Menschen, deren Geist gleichermaßen männlich und weiblich in sich vereint. In Indien gibt es die Hijras und auch die burrnesha aus dem nicht ganz so weit entfernten Norden Albaniens weichen von unserem Geschlechterbild ab, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Diese und etliche weitere sind bereits seit Jahrhunderten in ihren jeweiligen Kulturen verankert, es handelt sich also bei Geschlechtern außerhalb von Mann und Frau nicht, wie viele gerne unterstellen, um Phänomene der heutigen Zeit, Symptome der Postmoderne hervorgerufen durch “entarteten” Individualismus oder ähnlich hanebüchene Begründungen.

Doch was hat das alles nun mit der westlichen Gesellschaft zu tun, dass sogar die Einführung “neuer” Wörter durchgesetzt wird? Mit einem haben die konservativen Kritiker von Genderwahn und ähnlichen Schreckgespenstern zumindest recht, nämlich damit, dass die heutigen Zeiten liberaler und freier sind als früher. Was natürlich nicht heißt, dass Menschen jetzt auf einmal neue Geschlechter erfinden würden. Wie bei vielen anderen Dingen auch, fühlen sie sich nur heutzutage sicher genug, auch offen dazu zu stehen.

Manche Menschen stellen also fest, dass die Kategorien weiblich ODER männlich, in einander ausschließender Form, nicht zu ihrem eigenen Empfinden, ihrer persönlichen Identität passen. Da gibt es solche, die sich mit keinem von beiden identifizieren können, aber auch solche, die sich mit beidem identifizieren, gleichzeitig oder abwechselnd und sogar Personen, die sich gar nicht mit irgendeinem Geschlecht identifizieren.

Wie man also sieht, ist die viel genutzte Phrase von Menschen, “die nicht wissen, ob sie Mann oder Frau sind” (wie auch kürzlich erst wieder im Rahmen einer berüchtigten Büttenrede) alles andere als zutreffend, denn viele nicht-binäre Personen wissen ganz genau, was sie sind. Außer den genannten Beispielen gibt es noch zahllose weitere Facetten. Generell wird Geschlecht, psychisch wie körperlich, heutzutage – und das nicht nur von Betroffenen – als Spektrum gesehen und nicht mehr als binäres System.

Wie eingangs bereits angedeutet, ist die deutsche Sprache leider sehr unflexibel diesbezüglich, sind doch personenbezogene Substantive meist geschlechtsspezifisch und ebenso bringen die deutschen Personalpronomina Probleme mit sich. Während man nun im schwedischen hen’ hat und man im anglophonen Raum relativ gängig das singulare ‘they’ benutzt, funktioniert dies bei uns nicht. Wir können das Prinzip von they’ nicht einfach übernehmen, da das deutsche ‘sie’ (pl.) nicht nur bereits als Höflichkeitsform belegt ist, sondern auch noch schriftlich und klanglich mit der femininen Singularform identisch ist.

Die Vorgehensweise wie beim schwedischen ‘hen’ lässt sich auch schwer auf das Deutsche anwenden. Zwar benutzen viele als Zwischenform von ‘sie’ und ‘er’ das Wort ‘sier’, aber es ist dennoch alles andere als allgemein anerkannt. Es empfiehlt sich daher, einfach höflich nachzufragen, welche Pronomina eine Person bevorzugt – und das nicht nur bei Leuten, die irgendwie so aussehen, als wäre es nötig! Nicht-binäre Menschen haben vielerlei Erscheinungsformen, Androgynität ist dabei nur eine mögliche Variation und man sieht Menschen ihr Geschlecht nicht immer an.

Niemals sollte man jedoch unerlaubt ‘es’ benutzen, da dieses von den meisten Personen als sehr beleidigend wahrgenommen wird, impliziert es doch eine Einordnung der Person als Ding. Und alle, die mal in die Situation kommen, dass das Gegenüber für sich neugebildete Wörter als Pronomina bevorzugt, sollten sich fragen, ob es nicht angebracht wäre, dieses bisschen sprachliche Unbequemlichkeit in Kauf zu nehmen, um Personen, deren Identität von einem Großteil der Gesellschaft durchweg für nonexistent erklärt wird, ein wenig Respekt und Höflichkeit entgegen zu bringen.

 

Nachtrag:

Seit der Veröffentlichung der ursprünglichen Version dieses Artikels in der Printversion zum Sommersemester 2016 hat sich einiges getan. Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes muss nun seit Anfang dieses Jahres ein dritter gesetzlicher Geschlechtseintrag durchgesetzt werden. Dieser wurde ursprünglich durch eine Initiative für die Rechte von Intersex-Personen hart erkämpft und brachte auch vielen dyadischen (1) nicht-binären Menschen Hoffnung auf gesetzliche Anerkennung.

Dieser Schritt war einerseits ein immenser Durchbruch, aber brachte auch Enttäuschung. Denn in der vom Innenministerium umgesetzten Variante ist die Zuerkennung des dritten Geschlechtseintrages an ein ärztliches Attest gebunden, das eine Variation der Geschlechtsentwicklung bescheinigt. Somit sind dyadische nicht-binäre Personen also generell ausgeschlossen und selbst vielen Intersex-Personen bleibt er verwehrt. Der Kampf um einen selbstbestimmten, inklusiven Geschlechtseintrag geht also nach wie vor weiter.

(1) Dyadisch: nicht intersex; eindeutig “männlich” oder “weiblich” nach gesellschaftlicher Definition

 

Von Vigdís Vinternatt

 

Eine frühere Version dieses Artikels ist in der Printausgabe Sommersemester 2016 (“Unterwegs”) erschienen.