Manche trauern ihm schon hinterher, andere jubeln über sein scheitern, wieder andere sind noch skeptisch: TTIP ist immernoch ein brandaktuelles Thema. Ein Kommentar von Raphael Arndt.

 

Produktion und Konsum bestimmen unser Leben. Oder, weniger allgemein ausgedrückt: Die Produktion von Waren und das Erbringen von Dienstleistungen dienen uns als Broterwerb, während der Konsum von Lebensmitteln und überhaupt das Empfangen von Gütern aller Art uns erst zu dem macht, was wir sind – dies ist lebenswichtig, denn wir können nicht sein, ohne in irgendeiner Form zu konsumieren. Wer von sich behauptet, von Licht zu leben oder sich von Luft und Liebe zu ernähren, ist nicht von dieser Welt oder bestenfalls ein Hochstapler. Nach der oben stehenden Formel hat unsere Gesellschaft jahrhundertelang, im weiteren Sinne schon seit immer funktioniert. Produzieren, Leisten bzw. Geben, um auf der anderen Seite zu nehmen. Ein Tauschgeschäft. Die Grundlage für eine Wissenschaft, die sich Wirtschaft nennt.

Den Wettbewerb gibt es schon so lange, wie es den Menschen gibt. Ob um Nahrung oder Bau- und Rohstoffe, um sozialen Status in der Gruppe oder im freien Spiel, um Kräfte zu messen und eigene Fähigkeiten zu schulen, auch aber um den günstigeren Preis. Zwar hat es immer schon Gewinner und Verlierer gegeben – ein Gleichgewicht in der Gruppe wurde jedoch immer wieder erreicht, und der Wettbewerb hatte immer diesen einen Zweck: die Optimierung von Ressourcen, um im Einklang mit den veränderten Bedingungen der Natur möglichst gut zu leben. Ein Prinzip, das so alt ist wie die Evolution von Charles Darwin.

Ohne innerhalb von (Lebens-)Gemeinschaften immer wieder zu einem Gleichgewicht zurückzukehren, ist dieses Prinzip nicht möglich. Das Handeln (und damit die Wirtschaft) lebt von der stetigen Rückkehr zum Gleichgewicht. Insofern ist es mir ein Rätsel, warum selbst ernannte Befürworter des Prinzips der freien Marktwirtschaft Interessen von riesigen Konzernen befürworten – das sind echte Moloche, die ohne Unterlass toben und ohne Rücksicht auf Freund oder Feind alles niederwalzen, was ihnen im Wege steht und ihre Gewinne schmälern könnte. Diese Ungeheuer – Nestlé, BASF und Monsanto und wie sie alle heißen – sind längst nicht mehr die Summe der Interessen all ihrer Mitarbeiter beziehungsweise freier Bürger, denn sie verfolgen partikularistische Interessen weniger Gesellschafter, nicht für Bedürfnisse, sondern für ihre Macht- und Habsucht, ihre Gier. Kurz gesagt, sie erzeugen ein Ungleichgewicht.

 

 

„Erst der Mensch, dann die Wirtschaft“ – dieses Prinzip bildet die Grundlage für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung. Erst einmal nicht als Hemmnis, sondern als Grundstein für die freie Marktwirtschaft. Denn eine funktionierende Marktwirtschaft setzt voraus, dass Konsumenten ein marktregulierender Faktor sind und damit nach der Formel Preis = Nachfrage/Angebot entscheiden können, welches Produkt ihren Vorstellungen entspricht. Damit erzeugt der Preis ein – na? – Gleichgewicht. Oder aus der Sicht des puristischen Menschen: Um sich gut mit Produkten guter Qualität mit dem Ziel einer guten Lebensqualität zu versorgen, dazu wurde die Marktwirtschaft erfunden. Nicht für schwarze Zahlen. Habe ich etwas falsch verstanden? Bin ich heute einer der wenigen Übrigen einer aussterbenden Art, die so denken?

Von schwarzen Zahlen sollen sich die Regierungen unserer Staaten nicht blenden lassen, denn das Wohlbefinden von Banken und Konzernen allein gibt noch keine Auskunft über das Wohlbefinden eines Landes. Diese sind jeweils Fassaden, Zusammenkünfte von Menschen, die als freie Bürger Leistungen erbringen, um dafür andere Leistungen zu empfangen. Ein Tauschgeschäft, alles im Sinne der freien Marktwirtschaft. Der Staat ist keine Gemeinschaft von Unternehmen, sondern eine Gemeinschaft von Menschen. Anhand deren Wohlbefinden sollte er seine Leistung messen, und nicht an nackten Zahlen.

 

 

Staatliches Eingreifen, um eine Monopolbildung auf dem Markt zu unterbinden, ist damit die Wiederherstellung eines Gleichgewichts, das nach dem klassischen bipolaren System von Geben und von Nehmen erst überhaupt nicht hätte entstehen dürfen. Der Zweck heiligt die Mittel, und wo das Mittel des Staates Markt heißt, heißt der Zweck bessere Lebensqualität für seine Bürger. Und das nicht unbedingt nur in materieller Hinsicht. Es scheint, als hätten die Staaten, die sich gerade um TTIP reißen, das Mittel mit dem Zweck verwechselt.

Unsere Demokratie ist in Gefahr. Das Freihandelsabkommen TTIP bewegt gewaltige Mengen an Kapital (und damit an Marktmacht) von Staaten beiderseits des Atlantiks für die Gewinne mächtiger Unternehmen, die ihren Handel sowie ihr Einflussspektrum ausdehnen möchten. Unser so geliebtes Gleichgewicht bringen sie ins Wanken.

Von den wenigen Namenlosen abgesehen, die von dem Freihandelsabkommen, das da TTIP heißt, oder CETA, TISA oder wasweißichwiesonstnoch, nicht gehört haben – sehr viele Menschen haben von TTIP schon gehört, ohne zu wissen, was die eigentlich sagen, die da TTIP schreien und dann im Geheimen verhandeln. Viele haben sich informiert, ohne überhaupt erst eine Grundlage zu haben, wo man sich da informieren kann. So ist doch die Frage legitim: Was habt ihr da zu Verbergen, was wir nicht wissen dürfen? Und wenn nicht einmal die Vertreter unserer Stimmen, der Stimmen des Volkes, Parlamentarier genannt, heute gesagt bekommen, worüber sie dann entscheiden sollen, wie sollen wir es heute wissen? Und wenn wir heute nicht wissen, was die entscheiden, die gemeinsam ein Monopol haben über Güter und Lebensmittel, die wir essen: Wie sollen wir morgen noch wissen, was wir da essen von denen, die uns im wahrsten Sinne des Wortes abspeisen?

 

 

Ohne über die genauen Zusammenhänge zu wissen, die da Volkswirte sehen, in Form von 600 000 Arbeitsplätzen, mehr, oder doch weniger? Gibt es für die EU ein Potential von 120 000 Euro, oder ist doch eine Nullrunde absehbar? Aber auch die Gegner rüsten sich und sprechen zu mir von Fracking, Chlorhühnchen oder Gen-Mais. Von all dem sprechen doch wohl die, die nicht mehr als ein Halbwissen haben und damit noch überhaupt von nichts wissen, als von ihrem flauen Gefühl im Bauch: “Das ist mir unheimlich. Ich will gar nicht mehr dazu wissen.”

Versteht mich bitte nicht falsch: Ich bin nicht gegen den Diskurs oder evidenzbasierte Lehre. Nichts ist praktischer als eine gute Theorie, und erst durch Fakten wird der Wert der Erfahrung überhaupt erst nutzbar. Aber wenn die da oben nicht mit mir reden wollen, lasse ich mich von ihnen nicht mehr belehren. Gesehen und gehört habe ich genug, um mir ein Urteil zu bilden. Ich lasse nicht zu, dass die Großen, die gestern noch meine Rechte verteidigt haben, die Lebensmittel und Güter, die ich zum Überleben brauche, hernehmen, um damit Handel zu treiben. Und dass sie vor (macht-)blindem Lechzen ohne Argwohn und ohne reifen Verstand nach neuen schwarzen Zahlen auch noch unser Mitbestimmungsrecht, bisweilen auch Demokratie genannt, und schließlich sich selbst verkaufen.

 

Wir sind keine Ware, wir sind Menschen!

Darum bin ich gegen TTIP. Bist du’s auch?

 

von Raphael Arndt