Unsere Autorin steht vor einem großen Dilemma: sie hat ihre Großeltern sehr gerne und möchte nicht bei ihnen in Ungnade fallen. Dennoch würde sie ihren 88-jährigen Opa gerne vom Autofahren abhalten – und sieht die Politik in der Verantwortung.

 

Mein Opa ist 88 Jahre alt. Während meine Oma (81) langsam ihr Kurzzeitgedächtnis verliert, ist mein Opa auch jetzt noch völlig fit im Kopf. Beide haben sich jahrzehntelang mit vielen Dingen, die laut Studien das Leben verlängern oder Demenz verhindern, gegen Krebs helfen etc. (sowie Dingen, die laut anderen Studien wieder den Gegenteil tun) fit gehalten: Sie gehen noch immer jede Woche in die Tanzschule, in der sie seit über 30 Jahren Mitglied sind. Sie sind bis vor ein oder zwei Jahren täglich Rad gefahren und auch jetzt versuchen sie noch, jeden Tag ein bisschen spazieren zu gehen. Sie trinken viel Kaffee, sehr viel Kaffee und jeden Abend ein Gläschen Wein. Ja, jeden Abend – der Hausarzt war von den guten Leberwerten meiner Oma doch sehr beeindruckt. Und sie sind seit 56 Jahren glücklich miteinander verheiratet, sicher hat sie vor allem das gesund gehalten.

Zusätzlich laufen sie mehrmals täglich die große Treppe in ihre Altbauwohnung im 1. Stock hoch- und runter, sowie mindestens einmal pro Tag die steile, dunkle Holztreppe in den Keller, wo sie wunderschöne Vorräte an selbst Eingemachtem und viel Eingefrorenes in einer riesigen Tiefkühltruhe haben. Das allermeiste davon ist nach wie vor eigene Ernte aus dem eigenen Schrebergarten. Besonders dieser hat sie definitiv fit gehalten. Sie haben ihn schon seit mindestens 35 Jahren.

 

Von Jumbozucchinis und einem Rollator

Diesen Sommer wurde das erste Mal ein Teil des Gartens Wiese gelassen und ein anderer Teil mit Schmetterlingsblumen besäht – sie konnten nicht mehr den ganzen Platz voll Nutzpflanzen pflegen. Mein Vater, meine Mama und meine beiden Onkel mit Frau beziehungsweise Lebensgefährten halfen oft, wenn sie zu Besuch bei meinen Großeltern waren, bei der Ernte und Pflege. Meine Großeltern sehen schon schrittweise ein, dass sie das nicht mehr alleine hinbekommen, deswegen haben sie ja auch nach langem Hin und Her endlich die Mitgliedschaft im Gartenverein gekündigt. Mein Bruder und ich waren gestern vielleicht das letzte Mal in diesem wunderschönen Garten, in dem wir als kleine Kinder schon gerne gespielt haben und aus dem wir gestern immerhin nochmal einige Johannisbeeren, gelbe Zucchini sowie eine riesige, wirklich riesige grüne Zucchini geerntet haben (garantiert Bio!).

Heute ist es zu warm, es wäre zu anstrengend für meine Großeltern, heute wieder rüber zu fahren. Mein Opa hat Schwierigkeiten mit dem Laufen, seine Beine werden immer tauber, gelähmter. Wenn er den Keller im Altbau betritt, hebt er sein eines Bein mithilfe der Hände über die hohe Schwelle. Deshalb läuft er außerhalb des Hauses – zum Glück – nur noch mit seinem Rollator. Geht es in den Garten, schiebt er den Rollator den mit Rasen bewachsenen Weg zwischen den Schrebergärten hindurch bis zum Tor und dann im Garten über den holprigen Weg, auf dem er schon zu oft hingefallen ist, bis zum kleinen Steinhäuschen.

 

Von schönen Ausflügen und innerstädtischen Radfahrern

Bis zu der Schrebergartenanlage sind meine Großeltern früher meistens mit dem Fahrrad gefahren. Jetzt fahren sie nur noch mit dem Auto dorthin. Meine Oma fährt schon seit Jahrzehnten nicht mehr, aber mein Opa fährt noch. Nur noch Stadtverkehr, betont meine Oma gerne, und wie sicher und aufmerksam er doch noch fährt.

Das mit dem Stadtverkehr ist ein dehnbarer Begriff: Vor einer Woche haben sie laut eigener Aussage eine hübsche Autofahrt übers Land, über die Dörfer durch die Gegend gemacht. Gestern durften mein Bruder und ich das Auto fahren,  als wir mit meinen Großeltern meine Uroma besuchten, die eine Autostunde entfernt wohnt – doch als ich meinen Opa vor ein paar Tagen am Telefon bat, bei der Versicherung nachzufragen, ob wir das dürften, war er der Meinung, dass es sonst ja auch kein Problem sei, wenn er die Strecke fährt, er könne das ja noch gut und sei ja gerade erst eine ebensolange Strecke über die Dörfer gefahren.

Während ich uns zu meiner Uroma fahre unterhalten wir uns manchmal etwas über das Autofahren. Ich rege mich über andere Autofahrer und sinnlose Beschilderungen auf der Landstraße auf, das tue ich gern. Mein Opa bezeichnet sich während des Gesprächs als vorsichtigen und vorausschauend fahrenden Fahrer. Tatsächlich hat er auch am Vormittag auf der Fahrt in den Schrebergarten sehr konzentriert und souverän gewirkt, als wir losgefahren sind. Ich komme später für mich selbst zu dem Schluss, dass er auch genau wusste, dass seine beiden Enkelkinder akribisch seine Autofahrkünste unter die Lupe nehmen – auch wenn sie ebenso akribisch darauf achten, es sich nicht anmerken zu lassen.

Doch er hat sich bei der Fahrt am Vormittag schnell beruhigt und entspannt – und seine Konzentration hat nachgelassen. Als wir (5 Minuten später) von einer stark befahrenen Straße nach rechts auf den zu den Schrebergärten gehörenden Parkplatz abbiegen, schaut er nicht etwa über die Schulter, um auf Fußgänger und Fahrradfahrer zu achten. Ich verkneife mir einen Kommentar, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich seinen Schulterblick nicht vielleicht übersehen habe. Außerdem hat Oma ihn eben schon ans Blinken erinnert.

 

Vom Blinken, Maulen und der Behördensprache der Polizei

Auf dem Rückweg vom Garten laufen wir zurück zum Parkplatz. Auf demselben Fußweg, auf dessen Fußgänger und Fahrradfahrer mein Opa auf dem Hinweg nicht geachtet hat. Ich nehme mir vor, meinen Opa auf den nächsten Fahrfehler doch lieber aufmerksam zu machen. Wir steigen ins Auto und fahren heim. Beim ersten Abbiegen vergisst mein Opa das Blinken, meine Oma und ich erinnern ihn daran. Er beschwert sich, dass wir ihn anmaulen. Er vergisst noch bei fast allen weiteren Abbiegemanövern auf dem kurzen Heimweg das Blinken.

Vor ein paar Monaten habe ich ein Praktikum bei einer Onlineredaktion gemacht. Ich habe unter anderem sehr viele Polizeipressemitteilungen gelesen, relevante Berichte rausgesucht und Artikel über die Ereignisse, zum großen Teil Verkehrsunfälle, geschrieben. Ich habe von so manchem angefahrenen / überfahrenem Fahrradfahrer und Fußgänger gelesen. Die Formulierung der Polizei ist immer “…den Fahrradfahrer / Fußgänger offenbar übersehen…”. Nicht selten (selbstverständlich nicht immer) ist der Autofahrer älteren Datums.

Ich würde meinen Großeltern gerne klar machen, dass ein 88-Jähriger Rollator-Nutzer, der wegen Gehproblemen in Besitz eines Behindertenausweises, mit dem er – sogar inklusive Begleitung – kostenlos regionale öffentliche Verkehrsmittel nutzen kann, kein Auto mit drei verschiedenen Pedalen und Gangschaltung mehr fahren sollte. “Nur mal kurz” im Stadtverkehr ebenso wenig wie zwei Stunden auf der Landstraße. Dass ein guter Wille zu guten Fahrkünsten leider nicht ein ausreichendes Konzentrations-, Reaktions- und Bewegungsvermögen ersetzt.

 

Von geliebten Großeltern, gefühlten Großfamilien und der Einsamkeit

Doch wie? Niemand, der diese Diskussion mit meinen Großeltern führt, macht sich damit beliebt. Und unbeliebt möchte man sich weiß Gott nicht bei den Menschen machen, die man aufgrund ihres schlechter werdenden körperlichen und geistigen Zustands so oft wie möglich sehen möchte. Bei den Menschen, die man versucht, davon zu überzeugen, dass sie endlich in eine barrierefreie Wohnung umziehen müssen und sich von einer wunderschönen, seit 30 Jahren von ihnen bewohnten, riesigen Altbauwohnung trennen müssen.

Und ich habe es noch gut, ich bin nicht alleine. Ich bin nicht eine einzelne Angehörige, die das alles allein hinkriegen muss. Wir sind zwei volljährige Enkel, drei Söhne mit zwei Ehefrauen und einem Lebensgefährten, wir sind möglicherweise dazu noch einige gute Freunde und jüngere Bekannte in der Tanzschule und auf der ehemaligen Arbeit meiner Oma. Wir sind noch ganz viele Menschen, die von meinen Großeltern gern gemocht und geschätzt werden und auf die meine Großeltern noch viel eher hören, wenn wir alle das gleiche sagen (vorausgesetzt wir trauen uns mal), als eine Person alleine, die sich unbeliebt macht.

Aber was machen Angehörige, die damit alleine sind? Es sollte nicht in der Verantwortung und am Gewissensbiss und Mut der Angehörigen oder einzelner Angehöriger liegen, 88-Jährige Rollatornutzer vom Nicht-mehr-Autofahren zu überzeugen. Diese Rolle sollte die Gesetzgebung übernehmen. Alte Menschen sollten in regelmäßigen Abständen Fahrtüchtigkeit ärztlich nachweisen müssen (neulich kommentierte jemand auf Facebook unter solch einer Diskussion, dass er erst an jenem Tag im Wartezimmer wieder gesehen habe, dass Rentner nun wirklich kein (Zeit-)Problem mit regelmäßigen Arztbesuchen hätten – ich kann von meinen Großeltern nichts Anderes behaupten) und im Zweifelsfall erneut eine Fahrprüfung ablegen müssen. Sodass, falls nötig, die Gesetze den Angehörigen die unangenehme Arbeit abnehmen, ihren Lieben den Führerschein und Autoschlüssel abzunehmen – auch zu ihrer eigenen Sicherheit.

 

Die Autorin möchte anonym bleiben.