Interview mit einer Obdachlosen

 

Wir sind eine Gesellschaft voll von Klischees: Während wir in der einen Sekunde darunter leiden, was andere Menschen fälschlicherweise von uns denken, wenden wir in der nächsten Sekunde die gesamte Palette an Vorurteilen anderen Personen gegenüber an. Teils aus Selbstschutz, Teils aus Gewohnheit. Aber immerhin lassen wir uns ja auch vom Gegenteil überzeugen!

Oder?

Manche Menschen bekommen nicht einmal die Chance, zu zeigen, dass sie weit mehr sind, als so manches Klischee über sie aussagt. Eine davon ist Conny. Sie ist, wie sie selbst sagt, über 40 Jahre alt und seit dreieinhalb Jahren obdachlos. Ein – meiner Meinung nach – überaus interessanter Interviewpartner zum Thema Klischee*. Denn wer wird mehr mit Verachtung, abweisenden Blicken und unzähligen Klischees überschüttet als Menschen wie Conny? Deshalb treffe ich sie an ihrem Stammplatz an der Wöhrder Wiese, um ihre Erfahrungen zu diesem Thema herauszufinden.

 

V: Passend zum Thema unserer Ausgabe* würde mich interessieren, welche Klischees Ihnen entgegengebracht werden?

Conny: Zunächst einmal darfst mich duzen! (Gibt mir die Hand). Naja, die meisten Menschen denken, ich wäre einfach nur zu faul zum Arbeiten, oder mir würde meine Situation gefallen, so wie sie ist. Und natürlich stellen viele Menschen Obdachlose mit Alkoholikern gleich, obwohl ich schon ewig keinen Alkohol mehr getrunken habe. Ich rauche nur, aber selbst das passt den Leuten nicht! Die haben dann Angst, ich könnte das Geld, das sie mir geben, für Zigaretten ausgeben, auch wenn ich das nie mache. Ich schnorr mir zwar immer mal wieder ne Kippe, aber Tabak an sich kauf’ ich mir nie.

 

V: Oftmals argumentieren Menschen damit, dass in Deutschland niemand auf der Straße leben müsste, was sagst du dazu?

Conny: Schön wär’s! Aber wieso sollte es dann so viele Obdachlose geben? Oft passiert sowas durch Fremdverschulden oder eine Reihe blöder Zufälle. Ich war lange Zeit krank und hab’ aufgrund dessen meinen Job verloren und dann nach einiger Zeit durch die entstandenen Mietschulden auch meine Wohnung. Um Sozialhilfe zu bekommen, braucht man allerdings eine Adresse, an der man gemeldet ist. Aber finde mal ohne Sozialhilfe oder Einkommen eine Wohnung! Ein richtiger Teufelskreis! Ohne Adresse kein Geld und ohne Geld keine Adresse.

 

V: Schätzt du dein Leben dennoch? Also… findest du es lebenswert?

Conny: Auf jeden Fall! Ich bin froh, zu leben und froh darüber, dass ich noch einigermaßen gesund bin.

 

V: Zum Thema Gesundheit: Was machst du eigentlich, wenn du krank bist?

Conny: Da ich keine Adresse hab, an der ich gemeldet bin, hab’ ich auch keine Krankenkasse und muss mich so gut es geht selbst versorgen. Bei kleineren Wunden geh ich zur Straßenambulanz und ansonsten halte ich mich mit dem Zwiebellook warm, um gar nicht erst krank zu werden.

 

V: Was ist das Schlimmste, was dir bisher auf der Straße passiert ist?

Conny: Einmal wäre ich fast vergewaltigt worden, aber das ging in letzter Sekunde nochmal gut. Oft sind es vor allem Worte, die schlimm sind. Als ich eine junge Frau mal nach 50 Cent gefragt habe, weil ich mir eine Breze kaufen wollte, erwiderte sie nur: „Geh doch anschaffen, du Crackhure!“.

 

V: Hast du denn selbst Klischees? Also beispielsweise Menschen wie dieser jungen Frau gegenüber?

Conny: Ich hatte mal viel mehr Klischees, noch vor einigen Jahren. Mittlerweile fällt mir aber meistens auf, dass mir Menschen Geld geben, die selbst mal in der Scheiße steckten. Während Anzugträger mich keines Blickes würdigen.

 

V: Bist du neidisch auf Menschen wie den Anzugträgern, denen es besser geht als dir?

Conny: Nicht wirklich neidisch. Mich stört es nur, wenn Menschen alles für selbstverständlich halten und das, was sie haben, nicht schätzen.

 

V: Was sind denn die Momente, die du in deinem Leben schätzt?

Conny: Ich freue mich darüber, wenn ich nette Leute kennenlerne! Es muss nicht mal Geld sein, selbst wenn ich nur gefragt werde, warum ich auf der Straße sitze, ist das besser als die übliche Ignoranz. Ebenso freue ich mich darüber, wenn mir Menschen mit Essen und Trinken helfen und mich zum Teil sogar wöchentlich besuchen!

 

V: Mal ein ganz anderes Thema: Glaubst du an Gott?

Conny: Ich musste in meinem Leben schon so viel Scheiße fressen, aber es geht ja nicht nur um mein Leben. Es passieren so viele schreckliche Dinge auf der Welt, Krieg, Hungersnot, und so weiter. Wenn es also einen Gott geben sollte, dann müsste er ein ziemliches Arschloch sein! Genau deshalb glaube ich nicht an Gott, aber daran, dass es irgendetwas Übergeordnetes gibt.

 

V: Welche Partei würdest du bei der Bundestagswahl wählen?

Conny: Keine der bestehenden Parteien. Wenn dann eine Mischung aus SPD, Grünen und AfD. Ich bin zwar nicht rassistisch, aber irgendwann muss auch mal Schluss sein! Es gibt so viele Obdachlose in Deutschland, hinzu kommen jetzt noch die Flüchtlinge und nehmen uns die Wohnmöglichkeiten weg und Neues wird auch fast nicht gebaut.

 

V: Willst du noch irgendetwas Besonderes los werden?

Conny: Eigentlich nicht. Zum Thema Klischees würde ich nur hoffen, dass die Gesellschaft Menschen wie mir gegenüber offener wird und uns auf Augenhöhe begegnet, anstatt nur wegzuschauen.

 

V: Vielen Dank Conny!

 

Das Interview führte Christoph Wusaly.

 

*Dieses Interview erschien zuerst in der 5. Printausgabe von “V – Das Studentenmagazin.” – Sommersemester 2017 – mit dem Thema “Klischees”. Christoph hat Conny seit dem nicht mehr auf der Wöhrder Wiese angetroffen.

Anmerkung der Redaktion: Das auf der Startseite unserer Webseite sowie bei dem Facebookpost als Vorschaubild angezeigte Foto zeigt nicht Conny – hierbei handelt es sich um ein frei und kostenlos verwendbares Foto von pexels.com / Taufiq Klinkenborg.