Die ehemalige Erlanger Studentin Janine Scherer hat ein Buch über den Syrienkonflikt geschrieben. Unsere Redakteurin Carla studiert Orientalistik und Politikwissenschaft und hat “Das Echo der Straße” gelesen. Ein Kommentar.

 

Janine Scherer – unter dem Namen Janine Volkova (“voljan”) schreibt sie auf ihrem Blog “Mittlerer Osten“, unter dem Namen Robin Krell Romane – gibt sich zu Beginn des Buchs “Das Echo der Straße” sichtlich Mühe, auf guter Quellenbasis neutral und ausgewogen zu schreiben.

Das scheint sie zuerst erfolgreich zu meistern und gewinnt das Vertrauen der/s Lesers/in. Nur an einigen Stellen wird nicht klar, warum zwischen vielen Fußnoten (in denen nicht immer einheitlich zitiert wird) manche Aussagen nicht mit einer Quelle versehen sind. Da es sich nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, unterliegt dies selbstverständlich ihrer journalistischen Freiheit.

Jedoch hat ihre Arbeitsweise einige Haken. Nach eigener Aussage (in den Kommentaren zum Blogimpressum sowie im Interview mit V – das Studentenmagazin.) war sie selbst noch nie in Syrien und hat auch keinen Bezug zu Syrien, außer, dass sie sich generell für Politik interessiert. Arabisch hat sie erst begonnen zu lernen. Sie stützt sich also auf journalistische Quellen in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Das sind oft “westliche Mainstream-Medien” von der Welt über die Zeit bis zur Washington Post, vom Guardian und dem Wall Street Journal bis zum Spiegel. Diese kritisiert sie in ihrem Buch und auf ihrem Blog als einseitig.

Darüber hinaus zitiert sie häufig Al Jazeera. Dem Fernsehsender, den sie fälschlicherweise als Zeitung bezeichnet, wirft sie, den Geographen Günter Meyer (zu diesem unten mehr) zitierend und keine weiteren Quellen nennend, in ihrem Buch Fälschungen und Propaganda für die syrischen Rebellen vor (weshalb Al Jazeera massiv an Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt verloren habe – meinem persönlichen Eindruck nach ist das nicht unbedingt der Fall, und das trotz Qatar-Embargo).

Scherer zitiert auch Russia Today, das wiederum von “westlichen” Medien als einseitige Progaganda Putins bezeichnet wird, sowie diverse syrische Staatsmedien, beispielsweise Tishreen. Gelingt ihr durch Symbiose dieser Medien, ohne eigenes Vorwissen, eine unabhängige und der “Wirklichkeit” (Ihr Blog hieß zu Beginn “die wirkliche Wirklichkeit”) näher kommende Darstellung der Ursachen und Umstände des Syrienkonflikts?

 

Verständnis für Assad

Die Antwort auf diese Frage ist meiner Meinung nach: “Nein.” Geht man an teilweise geradezu gegensätzliche Berichterstattung mit der Annahme heran, dass man einer Seite vorerst nicht mehr traut als der anderen – dass sie das tue, scheint sie vermitteln zu wollen – muss man sich mangels eigenem Zusatzwissen einfach entscheiden. Scherer entscheidet sich, mal tendentiell, mal es deutlich so formulierend, oft für das Narrativ des durch Russland, Iran und Hisbollah unterstützten Diktators Assad.

Sie mag keine böswillige Absicht haben, doch sie nimmt Assad sehr in Schutz und vermeidet es, das russische Engagement inklusive aktiven Militäreinsatzes in Syrien zu häufig zu erwähnen, während sie ausführlich analysiert, welche (islamistischen) Rebellen wie vom “westlichen” oder muslimischen Ausland unterstützt werden. Ersteres geschiet zum Beispiel, indem sie den unterschiedlichen Darstellungen nicht denselben Raum in ihren Ausführungen gibt und das Vorgehen des Regimes durch ihre Wortwahl verharmlost (Nur ein Beispiel: sie zitiert einen Bericht der Dailymail, der die Verhaftung von Schülern als Anstoß für erste Proteste behandelt und die grausame Folter eines 15-Jährigen in 30-tägiger Haft detailliert beschreibt – ihre eigene Wortwahl: “an Folter grenzende Befragung”).

Während sie die Opposition bzw. die militärisch vorgehenden Rebellen – sicher oft begründet – kritisiert, zeigt sie für das Verhalten der Regierung Verständnis. Wie sie das begründet, beziehungsweise welche Dinge sie in Zusammenhänge setzt und welche Schlussfolgerungen sie zieht, ist für mich oft nicht nachvollziehbar. So begründet sie, dass Assad in mehr als 10 Jahren Herrschaft (nach 30 Jahren Diktatur seines Vaters Hafiz) keine Reformen durchführen konnte, die die wirtschaftliche Situation des (ganzen) syrischen Volks wirklich verbessert hätten, damit, dass er außenpolitisch unter Druck gestanden habe. Selbst, wenn man dieser Argumentation folgen kann, muss man bemerken, dass sie von Perioden seiner Regierung, in denen dies nicht der Fall war, berichtet.

Trotzdem begründet sie mit der außenpolitischen Isolation auch, dass Assad das in den 1960ern durch die Baath-Partei erlassene Notstandsgesetz bis zum Jahr 2011 nicht aufheben konnte. Scherers Wortwahl dann zu 2011: “Bereits [Hervorhebung C. O.] am 21. April [also zu einem Zeitpunkt, da die Lage schon eskalierte, beispielweise Sicherheitskräfte Demonstranten bei mehreren Kundgebungen erschossen hatten] wurde das Notstandsgesetz aufgehoben”.

An vielen Stellen, an denen Scherer Misstände des diktatorischen Regimes eingesteht, schwächt sie diese sogleich wieder ab, indem sie Vergleiche zu anderen Staaten zieht. Diese hinken nicht nur oft sehr, sondern sie suggeriert damit auch, dass ihre Leser an den USA oder Deutschland, an ihren Regierungssystemen und Politik nichts auszusetzen haben. Das finde ich als Leserin nicht fair. Folter durch Assads Regime, das seine Gegner als Terroristen sieht? Als Terrorist will man ja auch nicht in US-amerikanischen Händen landen! Bei der Präsidentschaftswahl 2014 muss ein Kandidat, um zugelassen zu werden, 35 Parlamentsmitglieder hinter sich vereinen? Das amerikanische Wahlsystem ist auch doof! Demonstrationen, die aufgelöst werden, weil sie nicht angemeldet waren – zu einem Zeitpunkt, als Demonstranten bereits durch das Regime erschossen wurden und das seit den 60ern geltende Notstandsgesetz gerade erst aufgehoben wurde? In Deutschland muss eine Demonstration auch angemeldet werden! Da macht es sich der Schreiber des Nachworts ihres Buches, Oliver Kempkens, einfacher: Assad ist ja kein so schlimmer Diktator – er heißt ja nicht Kim Jong Un!

 

Opposition und Orientalismus

Scherer schlussfolgert im letzten Kapitel, dass es sicher Länder auf dieser Welt gäbe, “in denen ein bewaffneter Aufstand gegen einen Diktator gerechtfertig wäre – aber ich persönlich würde Syrien nicht dazu zählen. Gesetzt den Fall, die Rebellen seien tatsächlich so sehr von einem abstrakten Drang nach Freiheit erfüllt gewesen, dass sie meinten, zu den Waffen greifen zu dürfen, so hatten sie dennoch kein Recht, die unschuldige Zivilbevölkerung mithineinzuziehen. Zweifellos war die Bevölkerung nach 40 Jahren Assad-Herrschaft gelangweilt und hätte einen demokratischen Wandel begrüßt – aber nicht um den Preis der Zerstörung des ganzen Landes.”

Beim Lesen des Buches bekommt man das Gefühl, eine unbewaffnete Zivilbevölkerung, die auch einen echten politischen Willen hat, gäbe es nicht. Diese kann ja höchstens “gelangweilt” gewesen sein von der Diktatur der Assads. Und die Rebellen, warum und worum kämpfen die eigentlich? Scherer glaubt offenbar nicht an vielleicht legitimierte Ziele wie Freiheit (stattdessen vermittelt sie den Eindruck, die einzigen eigenen politischen Ziele der Rebellengruppen seien islamistische) – und wenn doch, dann kann dieser “Drang” ja allemal nur “abstrakt” sein. Deshalb, richtet Scherer, hat die Opposition kein Recht auf einen bewaffneten Aufstand, in dem offenbar nur die Rebellen für Massaker an der Zivilbevölkerung und die Zerstörung ganz Syriens Schuld sind.

Scherer spricht dem syrischen Volk hiermit das Recht auf Selbstbestimmung ab. Das passt zu ihrer Aussage, dass Demokratie nicht “das absolut Gute” oder “gar Diktatur automatisch das absolut Böse” bedeute. Es passt auch zu ihrer im Buch oft anklingenden Einstellung, dass die Demonstrationen 2011, wären sie überhaupt zu Stande gekommen, schnell wieder abgeebbt wären, hätte nicht das Ausland (“westliche” und einige muslimische Länder) diese angezettelt und einen Bürgerkrieg daraus gemacht.

Scherer kann sich nicht vorstellen, dass SyrerInnen selbstständig sein, eigene Forderungen stellen und etwas bewegen können, geschweige denn, dass sie die Fähigkeit und das Recht dazu haben, auch ihren eigenen Willen, wie sie (nicht) leben oder was sie (nicht mehr) erdulden möchten, auszudrücken. Das mutet auch orientalistisch (im Sinne der Orientalismusdebatte Edward Saids) an (Rafik Schami nennt die ähnliche Haltung Todenhöfers und Scholl-Latours gar rassistisch) – in einer Reihe mit vielen Formulierungen im Buch, dass etwas typisch, üblich verbreitet im islamischen Raum / arabischen Kulturkreis o. Ä. sei.

Mit dem Argument lässt sich natürlich vieles begründen, zum Beispiel die Vetternwirtschaft der Assads: Der Einsatz für die eigene Familie / den eigenen Clan bei der Ämtervergabe sei dort normal und falle den SyrerInnen nur dummerweise auf, da die Assads ausgerechnet der Minderheit der Alawiten angehören. Einen Grund, etwas “normales” nicht gut zu finden, haben die SyrerInnen offenbar nicht.

 

Der letzte Schah

Scherer findet auch, dass sich Massendemonstrationen bei der Beerdigung von Opfern der Sicherheitskräfte eines Staates mit einer Vorliebe zur orientalischen Großveranstaltung bei einer Beerdigung erklären lassen. Dazu zieht sie die Autobiographie des letzten iranischen Schahs heran, denn der erklärt das laut Scherer so. Dabei lasse die Art, wie die bewaffneten Aufstände und Guerilla-Aktivitäten ablaufen, ein einheitliches vergleichbares Muster im “Mittleren Osten” erkennen, das geographisch bedingt sei. Ob sie sich den Rest der Weltgeschichte einmal angesehen oder sich zum Beispiel über die Herkunft des Wortes “Guerilla” (kleiner Tipp: Aus dem Arabischen kommt es nicht) Gedanken gemacht hat, kann ich mir ebenso nicht beantworten wie die Frage, wie sie auf solche Theorien kommt und welchen Zweck sie mit ihnen befolgt. Jedenfalls würde ich behaupten, dass vergleichbare “Aufstände”, Bürgerkriege et cetera unter ähnlichen Faktoren auf der ganzen Welt ähnliche Muster aufweisen und die Kultur unter diesen gar kein oder ein stark zu vernachlässigender Faktor ist.

Auch die Aufnahme von Oppositionellen durch Nachbarstaaten sowie finanzielle oder militärische Hilfe für diese ist kein nur auf die Region beschränktes Phänomen – entgegen der Behauptung ihrerseits, mit der sie Assads Angst vor einem Erstarken der Proteste und sein entsprechend hartes Vorgehen rechtfertigt. Es ist ohnehin völlig abwegig, als Argumentation zu diesem Thema die “Islamische Revolution” in Iran mit dem “Arabischen Frühling” in Syrien zu vergleichen.

Denn erstere richtete sich gegen einen von anderen Staaten eingesetzten Machthaber. Letztere gegen einen einheimischen (aber einer Minderheit angehörenden) Diktator, der 2011 außenpolitisch sogar bemerkenswert unabhängig war, was Scherer selbst feststellt. Die Gemeinsamkeit der beiden, nämlich ihre skrupellose autokratische Herrschaft mithilfe von berüchtigten Geheimdienstapparaten in einem Polizeistaat übersieht Scherer hingegen lieber oder verharmlost sie.

Die Aussagen des Schahs, dass bei Großkundgebungen auch um Verstorbene, die gar nicht vom Geheimdienst getötet worden waren, getrauert worden sei, scheint sie nicht kritisch zu hinterfragen. Zur Lage in Syrien zu Beginn der Demonstationen schreibt sie von Syrien als einem “der fortschrittlichsten Länder der muslimischen Welt”, in dem man vielleicht noch nicht von Demokratie reden könne, was aber “noch lange nicht [bedeute], dass die Menschen unter permanenter Unterdrückung gelebt hätten”.

An der Argumentation, dass es unwahrscheinlich war, dass die Islamisten den eher antiwestlich, antiisraelisch auftretenden Assad zu stürzen versuchen würden, gibt es viele Haken – einer ist, dass sie kaum beachtet, dass es sich bei den Demonstranten vielleicht nicht nur um Islamisten (oder wahlweise vom Ausland finanzierte Agenten) handelte, wie Assad es darstellt.

Charles Lister, dessen Buch “The Syrian Jihad: Al-Qaeda, the Islamic State and the Evolution of an Insurgency” Scherer zitiert, zählt in einem Interview nur ein Drittel der Rebellen als Islamisten, das an der Frage festmachend, wie viele von ihnen den Islam in der zukünftigen Verfassung Syriens festschreiben wollen – selbst diesen sei aber die Notwendigkeit zu Kompromissen in Verhandlungen bewusst (Nicht ganz klar wird dabei, ob er in diese “Rebellen” an-Nusra (wird als Al-Qaeda-Ableger gehandel, von der sie sich offiziell, aber freundschaftlich, losgesagt hat) sowie den IS mit einrechnet).

 

Unübersichtliche Quellenlage

In ihrem Kapitel über den Einsatz chemischer Waffen ist meiner Meinung nach völlig unverständlich, warum Amateurvideos, die das Abfeuern von (mit dem Kampfstoff Sarin bestückten?) Raketen durch Rebellen zeigen, nicht gestellt wirken sollen. Das begründet Scherer damit, dass sie in “bester Handy-Amateurfilmer-Technik”, was auch immer das sein soll (ich jedenfalls kann kaum etwas erkennen), gedreht seien. Scherer findet, die Dialoge in den drei Videos “und das Allahu-Akbar-Geschrei während des Abfeuerns” glaubhaft. Ich dachte, dass sie noch kein Arabisch versteht. Und dass ein x-beliebiges Youtube-Video wegen “Allahu-Akbar-Geschrei” glaubhaft sei, ist erst recht nicht nachvollziehbar.

Darüber hinaus zitiert sie an genau dieser Stelle zweimal den Blogger Eliot Higgins, um zu beweisen, dass es sich bei den verwendeten Raketen um eine bestimmte Art handelt (die bei dem beschriebenen Giftgasangriff eingesetzt wurden). Zum restlichen Inahlt des Blogartikels, der argumentiert, warum die Videos wahrscheinlich ein Fake sind, sagt sie nichts.

Ähnlich, wie Scherer oft Tatsachen, die sie selbst feststellt, bei ihrer Argumentation nicht beachtet, vermittelt ihre Arbeit den Eindruck, dass sie sich auch bei ihren unterschiedlichen Quellen aussucht, was sie ein und derselben Quelle glaubt und zitiert und welche Aussagen sie ignoriert, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Dazu kommen Informationen und Argumente in mit dem Thema verwandten wichtigen Artikeln aus Quellen, die sie häufig zitiert hat (Guardian, Spiegel, …) und bei denen ich deshalb davon ausgehe, dass sie auch diese gelesen hat – da verlasse ich mich auf die entsprechenden Seiten, die zuverlässig die wichtigsten themaverwandten Artikel am Rand vorschagen oder gleich verlinken und auf entsprechende Algorithmen bei Social Media, Google und co.

Sehr gerne zitiert Scherer den Mainzer Geographieprofessor Günter Meyer. Professor Günter Meyer hat einen großen Teil seiner Karriere von Studium bis Habilitation in Erlangen absolviert und ist seit 1993 am geographischen Institut der Uni Mainz angestellt. Als “Nahostexperte” hat er vielen deutschen Medien zahlreiche Interviews gegeben, während er die Berichterstattung derselben “Mainstream-Medien” zum Teil scharf kritisiert.

Während Meyer auf den ersten Blick sachlich abwägend wirkt und Assad und Rebellen gleichermaßen für die unfassbare Brutalität des Jahre anhaltenden syrischen Bürgerkriegs verantwortlich macht, widerholt er Anschuldigungen wie die, dass die Hilfsorganisation White Helmets eine Anti-Assad-Propagandaorganisation sei und Videos drehte, die erwiesenermaßen fake seien (das gestellte Video der White Helmets wurde nicht als echter Einsatz dargestellt, sondern war eine Teilnahme der Organisation an einer “Mannequin-Challenge” auf Socail Media).

Das sind Vorwürfe, die aus einem der offiziellen Linie Assads und Russlands folgenden Blogger- und Trollmilieu kommen (dazu mehr im Guardian und im Spiegel) und durch die russischen Medien Russia Today (RT) und Sputnik weiter verbreitet werden – RT beispielsweise zitiert die Redakteurin des rechtspopulistischen Blogs infowars.com, Vanessa Beeley mit ihren Vorwürfen gegen die White Helmets als “unabhängige Journalistin”. Mit dem Wiederholen solcher Verschwörungstheoreien wirkt Meyer nicht glaubwürdig.

Scherer hat sich offenbar ihre Gedanken über Meyer und seine der Einschätzung anderer “Nahost-Experten” oft gegensätzliche Einstellung zu Syrien gemacht, wie aus ihrem Blogartikel hervorgeht, in dem sie ihn mit Kräften lobt, wie er naive Moderatoren “auf dem linken Fuß” erwische. Auf ihrem Blog wiederholt Scherer auch die Anschuldigungen, die White Helmets nähmen an Exekutionen teil und stünden wahrscheinlich in Verbindung mit Al-Qaida-Ableger an-Nusra – Beeley zitierend.

In Scherers Buch ist Meyer – soweit ich ihre Quellenlage überblicken kann – ihre einzige akademische “Experten”-Quelle und wird auch mehrmals namentlich im Text erwähnt.

Oben erwähntes Zitat, es seien Videos aufgetaucht, die belegten, dass Al Jazeera Kriegsszenen mit Schauspielern stelle und in denen beispielweises ein Doktor zu sehen sei, der von Al Jazeera zu einer falschen Diagnose über ein kerngesundes Kind bewegt werde, belegt Scherer lediglich mit Aussagen Meyers in einem Interview. Zu diesen Vorwürfen habe ich durch Suche bei Ecosia und Google mit unterschiedlichsten Stichwortkombinationen nichts finden können. Auch in einem Artikel der Uni Mainz über Meyer werden diese Vorwürfe aufgegriffen, aber nicht durch Quellen belegt.

Auffällig ist, dass Meyer bei zahlreichen Interviews schnell auf Israels Interesse, Assad loszuwerden, hinweist. Ähnlich klingt der ehemalige französische Außenminister Roland Dumas (1984-86 / 88-93), der in einem Interview behauptete, dass hochrangige britische Funktionäre ihn schon 2009 in Pläne, in Syrien militätisch zu intervenieren, eingeweiht hätten. Dieses Interview zitiert Scherer in ihrem Buch als Youtubelink. Die Plausibilität seiner Behauptung bekräftigt Dumas damit, dass ihm Netanyahu vor langer Zeit gesagt habe, er wolle ihm feindliche benachbarte Regierungen loswerden. Dumas ist dafür bekannt geworden, nicht an das offizielle Narrativ der Ereignisse des 11. September zu glauben und unterstellte 2015 Manuel Valls, wegen seiner Ehefrau “unter jüdischem Einfluss” zu stehen.

 

Eigener Widerspruch

In ihrem letzten Kapitel kommt Scherer noch einmal auf die mutmaßlichen Ursachen des Bürgerkriegs zurück. Sie schreibt: “Nachdem am 15. März einige Demonstanten ums Leben gekommen waren, versammelten sich […] große Menschenmassen, welche schließlich in Konflikt mit der Polizei gerieten. [Hervorhebungen C. O.]”. Nicht nur ist die euphemistische Wortwahl ein Hohn auf die Opfer der Gewalt des Assad-Regimes, auch verdreht sie die Reihenfolge der Ereignisse und damit Ursache und Wirkung. Nicht zuletzt widerspricht diese Darstellung ihrer eigenen, ausführlicheren Darstellung an anderer Stelle.

Für Syriens Zukunft zeichnet sie düstere Aussichten. Ohne Assad ginge es nicht, da keine der Oppositionsgruppen organisatorisch in der Lage wäre, zu regieren (und offenbar deshalb auch nicht das Recht dazu hat?). Exil-SyrerInnen, die teilweise seit Jahrzehnten im Ausland leben, sind ihrer Meinung nach schon erst Recht nicht legitimiert, zu regieren. Das erinnert etwas an entsprechende “Verräter”-Argumentation von einigen Nationalisten. Ganz mit der Argumentation von Diktatoren von as-Sisi und co., die mit solchen Szenarien Angst machen möchten, beschwört Scherer das große Chaos in Syrien, “sollte die Baath-Regierung fallen”.

Ich hätte noch vieles mehr anzumerken und besonders Beispiele zu nennen, aber diese “Kurzfassung” muss reichen. Janine Scherer war mutig, sich dem Thema anzunehmen – einem Bürgerkrieg, in dem die besten Experten den Überblick verlieren. Da vermutlich besonders Leute, die sich einen ersten Überblick über die Syrien-“Krise” verschaffen möchten, sich für dieses Buch interessieren, rate ich, sich bewusst zu machen, dass zu diesem unübersichtlichen Thema nicht nur eine Expertenmeinung, sondern eine Fülle von widersprüchlichen Darstellungen existiert.

Mit ihren Darstellungen und ihrer Meinung ist Scherer selbstverständlich nicht alleine, sondern reiht sich ein in eine diffuse Umgebung von “Experten”, “Journalisten” und anderen, die zu unterschiedlichem Grad und aus verschiedener Motivation heraus Assad verharmlosen und die syrische Opposition versuchen, zu diffamieren, und die es dabei oft nicht stört, wenn sie sich selbst in diversen Punkten widersprechen. Einzelne Behauptungen, aus ihrem Zusammenhang gelöst, reichen als “Beweis” für die Falschheit der “westlichen” Medien völlig aus. Die syrische Opposition stellen sie als vom Ausland gesteuert oder islamistisch dar und sprechen dem syrischen Volk Fähigkeit und Recht zur Selbstbestimmung ab – auch ihnen geht es nicht um die vielen toten Kinder, die Jürgen Todenhöfer gerne auf Social Media beklagt.

Zu Todenhöfer und Günter Meyer reihen sich Michael Lüders, Scholl-Latour und Seymour Hersh ein, letzterer kam als Investigativjournalist in Vietnam zu Ruhm und sagt jetzt unter Anderem, in Khan Shaikhun habe es kein Giftgas gegeben, auch der syrischen Version des Vorfalls widersprechend (zu Hersh: tagesschau, Guardian und Higgins). Auch ihn zitiert Scherer im Buch an vielen Stellen. Während Rafik Schami in seinem Artikel für die taz die Eitelkeit eines Todenhöfers oder Scholl-Latours hervorragend auf den Punkt bringt, möchte ich Günter Orths Diskurs über Assad-Apologeten im linken wie im rechten Spektrum Deutschlands ans Herz legen. Die allermeisten der hier als typische Argumente der Assad-Apologeten genannten Punkte sind mir auch in Janine Scherers Buch aufgefallen. Mir persönlich sehr zu bedenken gibt seine Schlussfolgerung: “Da wo sich Rechts und Links vermischen, bleibt nur Rechts übrig”.

 

Von Carla Ober

 

“Das Echo der Straße. Eine Analyse der Wurzeln des Syrienkonflikts” erschien 2017 im Taugenichts-Verlag. 168 Seiten. 12,95€ / 5,95€ als E-Book.

Vorschaubild dieses Beitrags: Cover des Buchs: Simone Stricker/Anna Reußwig