Seit langem schafft es ein isländischer Film das erste Mal wieder auf die deutschen Leinwände: Mit Woman at War (deutscher Titel: Gegen den Strom) gelingt Regisseur und Scriptwriter Benedikt Erlingsson nicht nur die perfekte Balance zwischen genialer Situationskomik und dem ernsten Thema Klimawandel. Die Protagonistin Halla (Halldóra Geirharðsdóttir) wird als durchwegs überzeugende Heldin inszeniert, die jeden patriarchalen und misogynen Ansatz in der Filmbranche k.o. schlägt.
Die Protagonistin
Der Charakter Halla wird von Beginn an vielschichtig porträtiert: Sie führt ein durchdachtes und ausgeklügeltes Doppelleben. Sorgenfrei und den Nachbarn winkend fährt sie mit ihrem Fahrrad durch die Stadt, ist Chorleiterin und wirkt wie eine ganz normale 50-jährige in einem isländischen Dorf. Insgeheim ist sie jedoch auch eine Umweltaktivistin, die sich gegen die lokale Aluminiumindustrie auflehnt und sich für die Natur einsetzt. Getarnt unter dem Namen „Die Frau der Berge“ verübt sie Industriesabotage bis hin zum Vandalismus und hält nicht nur die Medien auf Trab, sondern auch die Polizei, der sie jedoch immer einen Schritt voraus ist.
Während des Films bekommt der Charakter noch eine zweite Komponente neben der Umweltaktivistin: Halla wartet seit Jahren auf ein Adoptivkind und nun ist sie an der Reihe, ein Mädchen aus der Ukraine adoptieren zu können. Dieses Sehnen nach der Mutterrolle erschwert es ihr, ihre Pläne gegen die Aluminiumindustrie durchzuführen.
Diese zweite Komponente sollte man jedoch nicht als Rückschlag ihrer emanzipatorischen Willenskraft sehen. Denn dadurch gelingt es Erlingsson, die Protagonistin sanfter und wärmer zu zeichnen, um einen mehrdimensionalen Zugang zu ihr zu finden. Sie ist nicht nur die auflehnende Heldin, sondern auch eine Frau, die sich nach einem Kind sehnt. Diese zwei unterschiedlichen Rollen kommen sich zwar während des Films in die Quere und bringen Halla zeitweise in ein Dilemma, jedoch wird keine Rolle als die Richtige bestimmt.
Dieser innere Konflikt wird auf einzigartige Art und Weise dem/der Zuschauer*in näher gebracht. In den meisten Filmen entstammt die Filmmusik nicht der Diegese, sondern wird extradiegetisch eingesetzt, um bestimmte Emotionen des/der Zuschauer*in zu verstärken. Hier jedoch ist die Filmmusik im diegetischen Raum mit inbegriffen. Die Drei-Mann-Band und der ukrainische Chor verdeutlichen laut Erlingsson die inneren Dämonen Hallas, die die unterschiedlichen Gedanken vorantreiben. Während die Drei-Mann-Band ihren Umwelt-Aktivismus nach vorne bringen will, verdeutlichen die „angels of motherhood“ Hallas Wunsch nach der Rolle der Mutter. (Hier dazu das Interview)
Die Nebenrollen
Halldóra Geirharðsdóttir spielt nicht nur eine hervorragende Halla, sie verkörpert gleichzeitig auch noch ihre Schwester Ása. Diese wird relativ eindimensional gezeigt: Sie ist die verrückte Hippie-Schwester und Yoga-Lehrerin, die esoterische Lebensweisheiten versprüht. Unterschätzen sollte man diesen Charakter jedoch nicht. Für das Happy End ist sie die ausschlaggebende Person, die durch eine trickreiche Aktion die gesamte Justiz hereinlegt, wodurch man selbst als Zuschauer*in danach nochmal überlegen muss, wie genau das geklappt hat.
Weitere Nebenrollen sind Sveinbjörn und Baldvin, die beide als Komplizen Hallas fungieren. Beide helfen Halla aus der Patsche, versorgen sie mit hilfreichen Informationen oder folgen ihren Anweisungen. Sie stehen hierarchisch betrachtet eindeutig unter Halla und stellen sich auf ihre Seite. Meist gibt es bei Heldinnengeschichten einen männlichen Antagonisten, doch hier ist der Antagonist die Polizei und die Aluminiumindustrie.
Heldinnengeschichte ohne Love-Story
Man kann es kaum glauben, aber diese Heldinnengeschichte kommt tatsächlich ohne eine Love-Story aus. Sonst sehr verbreitet ist das Motiv der Liebe, darunter das Verlassen werden, das Betrügen und das Ausnutzen des Partners/der Partnerin (beispielsweise Kill Bill), das die Heldin antreibt. Oder auch die Liebe als Nebenstrang, die die Heldin entweder stärkt oder schwächt. Hier geht es aber tatsächlich nur um Halla, die mit ein paar Gehilfen ihre Pläne durchbringt.
Wichtig dabei ist, dass die Heldin nicht „vermännlicht“ wird, also männlich zugeschriebene Attribute stupide übernimmt (was man zum Beispiel an den Nebenrollen in Annihilation kritisieren könnte): Der vermeintliche Cousin Sveinbjörn, der während des Films zu ihrem Komplizen wird, zeigt Interesse an ihr, was dazu führt, dass sie hierdurch eine weitere Rolle verkörpert (love interest). Des Weiteren spielt Halla gekonnt in einer grandiosen Szene die weiblichen Klischees aus. Mit rotem Sommerkleid, Lippenstift und einem Auto voll mit Blumen verwirklicht sie das Bild der plaudernden, harmlosen und femininen Frau und entkommt damit der Polizei mal wieder um ein Haar.
Der Film „Woman at War“ ist (nicht nur) aus feministischer Perspektive ein wahres Meisterwerk, dem ich keinerlei schlechte Kritik geben kann. Die Protagonistin überzeugt mit willensstarker Persönlichkeit und der isländische Flair macht diesen Film zu einem Erlebnis.
Von Amrei Wesinger
“Gegen den Strom” läuft zur Zeit in Erlangen in den Lamm-Lichtspielen und in Nürnberg im Cinecitta und Casablanca.