Unser Autor ist in einem 104-Seelen-Dorf aufgewachsen und froh, inzwischen in Nürnberg zu wohnen. Eine Ode an die Großstadt.

 

Wenn es etwas gab, das ich mir als Kind beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dann war es das Stadtleben. Denn, und so viel stand fest, in einer Großstadt zu wohnen, muss wirklich abscheulich sein. Warum? Ganz einfach: „Der ganze Dreck, die schlechte Luft und vor allem der Lärm“, schnappte ich als Kind von meinen Eltern immer mal wieder auf.

 

Bestätigt bekam ich das, wenn uns arme Seelen – also „Stodara*“ wie man bei uns so sehr gerne und vor allem sehr abfällig sagt – in unserem 104 Einwohner*innen Dorf besuchten und immer wieder betonten wie ruhig und wunderschön es bei uns doch sei, mit all den Wiesen, Feldern und dem Wald.

Und ich gebe gerne zu, als Kind auf dem Land aufzuwachsen, hat zwar enorme Vorteile, doch mit dem Weichen meiner Kindheit änderte sich meine Sichtweise auf unsere Region.

An Feldern, Wiesen und Wald hatte ich mich irgendwann satt gesehen und dadurch – bis heute – verlernt, dem Ganzen viel abzugewinnen. Zugegeben, für kurze Zeit durch einen Wald zu spazieren kann schon ganz angenehm sein, aber eben nicht wirklich spannend und selbst die Freude über einen traumhaften Ausblick verfliegt bei mir nach wenigen Minuten.

Selbst die von allen so geschätzte „Ruhe“ empfand ich irgendwann als erdrückend und als Sinnbild dafür, dass hier wirklich überhaupt nichts los ist.

Egal, was ich erleben wollte, ich fand es stets in der Stadt, welche dadurch immer etwas Besonderes für mich war. Denn die Großstadt, so finde ich es zumindest, ist nicht nur dreckig und laut, sondern vor allem auch Freiheit.

Zum Beispiel die Freiheit, sich seine Haare zu färben, ohne, dass es sich wie ein Lauffeuer herumspricht und von jedem und jeder beim nächsten Aufeinandertreffen kommentiert wird. Oder auch die Freiheit, nach 22 Uhr noch Pizza zu bestellen, die dann sogar geliefert wird. (Tatsächlich mussten wir bestelltes Essen stets mit dem Auto holen, weil es entweder keinen Lieferservice gab oder dieser einen viel zu hohen Mindestbestellwert für unser Dorf im Niemandsland hatte)

Denn egal, ob die erste Queerparty, mein Studium, der erste Flirt oder Kuss, alle Meilensteine meines Erwachsenwerdens konnten mir nur die Tiefen einer Großstadt bieten.

Und dabei nicht zu vergessen, da ganz wichtig für mein Stadt-Glück-Freiheits-Gefühl: Die U-Bahn! Welch grandioser Erguss der menschlichen Existenz! Stets hat sie mich begleitet und mich von A nach B gebracht. Für mich wahrlich und mit großem Abstand das beste Verkehrsmittel aller Zeiten.

Wo sonst sitzen sich von Scheitel bis Sohle in Chanel gekleidete Dame und ein Pfandflaschensammler gegenüber? Genau, nirgendwo. Im Untergrund trifft man sie aber alle. Hier prallen Welten aufeinander und während jeder Fahrt erwartet dich eine bunte Mischung aus den verschiedensten Menschen, allesamt auf engstem Raum vereint. Die U-Bahn ist das, was ich mir vom Theater so sehr wünschen würde: Ein Ort der Zusammenkunft.*

Passenderweise bietet so eine Fahrt manchmal mehr Unterhaltungspotential als so manches Bühnenstück. Ob redselige Omis*Opis, Beziehungskriesen, welche schreiend diskutiert werden, Zeugen Jehovas welche den Gästen heimlich Flyer zustecken, Betrunkene die ihren Kopf plötzlich auf meine Schultern legen oder eine kleine, private Zaubershow, man weiß nie, wer, und vor allem was bei der nächsten U-Bahnfahrt passiert.

Denn — und das ist auch der Grund für dieses Geschreibsel — die Stadt samt der U-Bahn hält stets eine Überraschung für dich bereit. Und im Falle der Zaubershow  von letzter Woche werde ich noch lange verzaubert sein. Doch fangen wir von vorne an!

Nach ein paar Gläsern Wein mit meiner Mitbewohnerin war ich auf dem Weg zur Wohnung meines Freundes — am anderen Ende der Stadt. U-Bahn sei dank, hatte ich die Möglichkeit, auch angetrunken von A nach B zu kommen. Bereits nach einer Station ist mir ein dubios (man könnte es auch mystisch nennen, aber dubios trifft es doch mehr) wirkender Herr ins Auge gefallen, welcher einen Stapel Spielkarten gekonnt zwischen seinen beiden Händen „jonglieren“ ließ, während er sich im Wagon umschaute.

Für einen sehr kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Dabei erkannte ich, dass er anstelle seines rechten Augapfels eine leerstehende Höhle hatte. Automatisch meldete sich mein schlechtes Gewissen zu Wort. Angst, er möge jetzt denken, ich hätte deswegen in seine Richtung geblickt.

Unbeeindruckt von meinen Gefühlen ließ er seinen Blick weiter durch die U-Bahn streifen, bevor er sich gegenüber von mir setzte. Er bat mich, eine Karte zu ziehen – es war die Herz 7. Anschließend steckte ich die Karte zurück in den Stapel, welchen er mit zittrigen Händen, aber rasant flinken Fingern mischte, um mir dann die Herz 7 als oberste Karte des eigentlich gut durch gemischten Stapels zu präsentieren.

Mehrere Stationen lang gab der “Zauberlehrling” verschiedenste Tricks zum besten, ohne, dass es mir auch nur ansatzweise gelang, einen davon zu entlarven. Am Plärrer trennten sich unsere Wege, bevor er ausstieg gab er mir die Hand und verschwand dann in die weiten der Stadt.

Ich fuhr weiter bis zur Endstation, fühlte mich dabei wohl und irgendwie auch glücklich. Zum einen war ich begeistert davon, dass ich während der Fahrt mit Kartentricks unterhalten wurde, zum anderen war es ein schönes Gefühl, zu wissen, dass auch der Zauberer sich sichtlich über meine Aufmerksamkeit und mein Wohlgefallen gefreut hatte und dadurch eine Art Kreislauf der Freude entstanden war. Ein Kreislauf, wie er auf dem Land wohl nie entstanden wäre.

Später am Abend dachte ich noch einmal über das Sammelbecken “Stadt” nach und freute mich darüber, wie viele verschiedene Menschen hier doch ihren Platz gefunden haben. Und dass ich einer davon bin.

Während ich diesen Gedanken sponn, bretterte draußen ein Krankenwagen mit Blaulicht vorbei, gefolgt von einem*einer Autofahrer*in, welchem*welcher es anscheinend Spaß machte, nachts an Ampeln so laut und nervig wie nur möglich mit dem Gas zu spielen. Und plötzlich, fast automatisch kam mir der Gedanke, wie schön ruhig es auf dem Land jetzt wohl wäre.

Von Christoph Wusaly

*oberpfälzisch  für Stadtbewohner*in

*Christoph studiert Theaterwissenschaft