Mein Lieblingsschriftsteller wurde 1929 in Garmisch geboren. Damals hätte keiner – inklusive seiner eigenen Person – wohl damit gerechnet, dass er einer der erfolgreichsten deutschen Jugendbuchautoren werden würde. Ich bin mit seinen Werken aufgewachsen; und ich glaube daran, dass in seinen Büchern Botschaften über das Wesen des Menschen enthalten sind, welche wir erst zu verstehen beginnen.

Mein Lieblingsschriftsteller ist Michael Ende, und das Buch, welches mir besonders am Herzen liegt, ist Die Unendliche Geschichte.

Für diejenigen, denen die Geschichte unbekannt ist: der Protagonist Bastian Balthasar Bux stiehlt in einer Buchhandlung ein Buch, welches ihn buchstäblich in seinen Bann gezogen hat. Während er anfängt, es zu lesen, lesen wir – die Leser – das Buch über seine Schulter mit. Diese zwei verschiedenen Handlungsebenen werden in dem Buch durch zwei verschiedene Schriftfarben gekennzeichnet. Mit fortschreitender Handlung muss Bastian feststellen, dass die Figuren im Buch ihn zu kennen, ja sogar auf ihn zu warten scheinen, und er wird in das Buch „hineingesogen“. Um aus diesem Buch wieder hinaus in die Realität zu gelangen, muss Bastian verschiedene Aufgaben überwinden, die seine Persönlichkeit auf den Prüfstand stellen.

Das mag jetzt vielleicht nach einem gewöhnlichen Fantasy-Jugendbuchroman klingen. Aber Michael Ende hat darin eine deutliche Botschaft (mehr oder weniger verborgen) festgehalten: Er kritisiert die zunehmend ablehnende Haltung unserer Gesellschaft gegenüber Träumern, Geschichtenerzählern und der Fantasie im Allgemeinen. Michael Ende möchte uns sagen, wie wichtig es ist, die eigene Imagination zu benutzen.

Tatsächlich beginnen die Charaktere in Die Unendliche Geschichte zu sterben, weil niemand mehr an sie glaubt – und Bastian erfährt, dass sie nach ihrem Ableben zu „Lügen“ in der realen Welt werden. Dort allerdings machen sie die Menschen krank und misstrauisch. Die Botschaft ist damit klar: wir sollen nicht aufhören, Geschichten zu erzählen.

Aber warum ist die Fantasie so wichtig? Warum erzählen wir Geschichten?

Ich schrieb vor einiger Zeit eine Seminararbeit* über dieses Buch und die Fragen, die es aufwirft. Darin stellte ich fest, dass unsere Imagination die Menschheit stets vorangebracht hat, und dass Fantasie vor allem für Kinder auch eine große pädagogische Bedeutung hat.

Aber es war ein anderes Buch, welches mir vor kurzem eine neue Perspektive eröffnete.

In „Sapiens“ schreibt der Autor Yuval Harari relativ am Anfang über die Anzahl von Menschen, die eine funktionierende soziale Gruppe bilden können. Diese Anzahl beläuft sich laut ihm auf 150 Individuen, die sich alle gegenseitig kennen.

Wie wir aber mit einem Blick auf unser Umfeld feststellen können, leben wir in Gruppen einer erheblich höheren Anzahl von Menschen zusammen; selbst, wenn man die Gruppe auf „Einwohner*innen von Erlangen“ eingrenzt, sind das immer noch ca. 110 000 Menschen. Was, fragt der Autor, ist also der Trick, durch den unsere Spezies so zahlreich friedlich zusammenleben kann?

Er beantwortet die Frage selbst: unsere Fähigkeit zur Transzendenz. Wir Menschen haben die einzigartige Gabe, an Dinge glauben zu können, die wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können. Religion und Götter sind das Paradebeispiel: Wir können eine göttliche Existenz nicht mit handfesten, wissenschaftlichen Beweisen eindeutig belegen. Das hält uns aber nicht davon ab, an sie zu glauben.

Und es ist diese Fähigkeit zur Transzendenz, die uns zusammenhält. Wenn wir im Urlaub sind, und wir sehen jemanden aus dem gleichen Land wie wir, oder wir treffen beim Feiern jemanden, der das gleiche studiert: wir fühlen uns automatisch verbunden. Wir gehören der gleichen Gruppe an.

Nationalitäten, Rechtssysteme, Regierungen – diese sozialen Strukturen halten uns zusammen. Für uns sind sie sehr real, aber eben nur in unseren Köpfen, und sie funktionieren nur, wenn alle daran glauben.

Diese sozialen Strukturen haben wir über Jahrhunderte entwickelt. Es gab sie noch nicht zu Beginn der Menschheit, als wir noch in weitaus kleineren Gruppen zusammenlebten.

Es wäre schön, sich vorzustellen, dass es vielleicht damals mit einer Geschichte angefangen hat. Wir wussten noch nicht so viel über die Wege der Natur wie jetzt; vielleicht wollten wir uns erklären, warum im Herbst die Bäume ihr Laub verlieren oder weshalb es Feuer gibt. Vielleicht wollten wir begreifen, was mit unseren Mitmenschen passiert, wenn sie sterben.

Jemand hat den Kopf gehoben, den Himmel angeschaut und etwas darin gesehen, was sonst noch keiner darin sehen konnte. Dieser erste Geschichtenerzähler löste damit möglicherweise einen Ablauf von Ereignissen aus, nach welchen alle Mitglieder seiner Gruppe das gleiche im Himmel sahen wie er; und vielleicht überzeugten sie auch andere davon.

Ob Michael Ende daran gedacht hat, als er Die Unendliche Geschichte schrieb, kann ich nicht sagen. Das, was er uns sagen wollte, ist aber auf jeden Fall noch präsent: Unsere Fantasie ist eine unserer größten Stärken. Der Mensch hat die Fähigkeit bekommen, zu glauben. Wir sollten davon Gebrauch machen.

 

Von Emili Rauenbusch

*Im W-Seminar im Fach Deutsch in der Oberstufe am Gymnasium