Gestern habe ich ein Zitat im WhatsApp-Status einer Bekannten gelesen: „Don’t waste your time looking back, you’re not going that way.“ Nicht zum ersten Mal macht es mich wütend.
Ich habe es da nicht zum ersten Mal gelesen, und nicht zum ersten Mal macht es mich tatsächlich etwas wütend. Wieso? Tja, der Auslöser ist in meiner Vergangenheit zu finden.
Uns allen tut es gut, ab und zu mal innezuhalten und sich zu fragen, wo man steht, und ob man da auch stehen will. Dann gibt es aber noch die Leute, denen es eigentlich dringend geraten wäre. In meiner persönlichen Erfahrung waren es immer Personen, mit denen man immer und immer wieder an dead ends im Verhältnis geraten ist: Personen, die jammern, ohne was zu ändern; die streiten, ohne zu reflektieren; die leiden, ohne sich Hilfe zu suchen.
Die meisten von ihnen haben mehr oder minder beschissene Dinge erlebt. Die meisten von ihnen sind im Grunde unzufrieden gewesen. Aber: wieso sie da stehen, wo sie stehen, das hat natürlich gar nichts mit der Vergangenheit zu tun (Achtung, Ironie!). Und es hat auch nichts damit zu tun, dass sie sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen müssen, um etwas zu ändern. Und dass sonst eben alles in denselben Bahnen weiterläuft.
Sorry, aber da muss ich doch etwas zynisch lächeln. Viele Versuche, die Karre gemeinsam anderweitig aus dem Dreck zu ziehen, sind gescheitert. Ignoranz und Selbsttäuschung sind absolut ok, wenn ich nicht am Ende mit den Folgen behelligt werde.
Dieser Artikel ist viel – ein kleiner Wutausbruch, eine Prise Traurigkeit über verlorene Freundschaften / Familie, ein Hoffnungsschimmer für mich (denn ich habe / hatte diese Menschen lieb, und wünsche ihnen Besserung) – und dieser Artikel will viel: überzeugen (fragt euch, ob eure Vergangenheit schuldig ist!) und Frust kanalisieren.
Back to the roots
„Don’t waste your time looking back, you’re not going that way.“ Aha. Ist das so.
Was soll mit diesem Spruch ausgesagt werden? Ich persönlich stelle mir vor, dass man etwas Unschönes erlebt hat, und einem dann geraten wird: „Schau nach vorn. Was hinter dir liegt, spielt keine Rolle mehr.“ Und: „Die Auseinandersetzung mit Vergangenem bringt nichts.“ Zumindest nichts Positives.
Unabhängig davon, wieso man den Spruch bemüht, bin ich der festen Überzeugung, dass jeder von uns ein Produkt seiner Erfahrungen und somit seiner Vergangenheit ist. Unsere Erlebnisse und das soziale Umfeld, in dem wir aufwachsen, bestimmen unsere Gefühle, Glaubenssätze, Werte, Denk- und Verhaltensmuster, und unsere Reaktionen. Lernen, Anpassung und hierarchische Gruppendynamiken sind notwendige Überlebensmechanismen.
Ein Blick in die Vergangenheit = (k)ein Blick in die Zukunft?
Inwiefern bestimmt also die Vergangenheit auch unsere Zukunft?
Lernen und Anpassung beginnen, sobald wir geboren sind. Aus diesem Grund geht 1.) vieles davon unbewusst vonstatten, und 2.) findet dabei eine sukzessive Verfestigung statt. Bis man sich etwaiger dysfunktionaler Lerneffekte als Ursache für gegenwärtige Probleme bewusst wird, kann einige Zeit verstrichen sein. Je später diese Erkenntnis einsetzt, desto schwieriger wird eine wirksame Intervention. (An dieser Stelle ein anderes social-media-taugliches Zitat:)
Watch your thoughts; for they become words.
Watch your words; for they become actions.
Watch your actions; for they become habits.
Watch your habits; for they become character.
Watch your character for it will become your destiny.
Churchill sagte: „Those that fail to learn from history, are doomed to repeat it.” Kernaussage: Solange wir immer gleich handeln, sind auch die Ergebnisse immer die gleichen. (Ausnahmen sind Fälle der Kategorie „Jeden Bergtag 3 Maß trinken“).
Zusammenfassend: Wir sind ein Produkt diverser Lernprozesse aus der Vergangenheit. Diese Lernprozesse umfassen die Adaption von Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen, die mit der Zeit immer mehr internalisiert werden, bis sie völlig unbewusst und automatisch ablaufen. Das Unbewusstsein von Routiniertem führt zu einem starken, ebenfalls unbewussten Einfluss auch auf zukünftige Situationen.
Insofern kann – voilà – unsere Vergangenheit auch unsere Zukunft sein (und wir merken es vielleicht nicht einmal).
Wann lohnt sich der Blick zurück?
Wandelt man das Ausgangszitat nun entsprechend dieser Erkenntnis um, so könnte es lauten: „Don’t waste your time looking back – you may be going that way, but… who cares?“. Wer mit seinem bisherigen Leben glücklich ist, und keine Änderungswünsche hegt, der braucht sich eigentlich wirklich nicht um einen Lerneffekt bezüglich seiner „history“ bemühen. Ein Blick zurück mag schön sein, aber nicht zwangsläufig nötig oder entwicklungsmäßig von Vorteil.
Wann sollte man sich denn nun mit seiner Vergangenheit befassen?
Die Kurzfassung: Wenn du immer noch / immer wieder unter ihr leidest. Wenn sie dich so im Griff hat, dass sie eine dir unangenehme Macht innehat. Wenn sie andere Leute mitbelastet.
Woran kann man das erkennen? Hierzu habe ich mir einige Fragen überlegt, die diesen Einfluss sukzessive sichtbar werden lassen. Je öfter die Fragen bejaht werden, desto eher könnte es sinnvoll sein, das Vergangene aufzuarbeiten.
Wäre ich ohne bestimmte Aspekte meiner Vergangenheit glücklicher? Würde ich sie gern ungeschehen machen?
Wäre ich ohne diese Erlebnisse vielleicht ein ganz anderer Mensch mit einem ganz anderen Leben?
Würde mir dieses alternative Leben besser gefallen? Ginge es mir dort signifikant besser?
Haben diese Erfahrungen immer noch einen Einfluss auf mich (Handeln / Denken / Fühlen)?
Fühle ich mich durch diesen Einfluss maßgeblich in meiner Lebensfreiheit gestört?
Steht meine Vergangenheit meiner Zukunft im Weg?
Stellt sie eine wiederkehrende Belastung dar?
Habe ich den störenden / negativen Einfluss unter Kontrolle, oder fühle ich mich zeitweise oder dauerhaft an meine Grenzen gebracht?
Habe ich bestimmte Denk- / Verhaltensmuster, die mich immer wieder in emotional oder anderweitig problematische Situationen führen?
Hat mich meine Umwelt bereits wiederholt auf ein bestimmtes Verhalten angesprochen, das regelmäßig zu Konfliktsituationen führt?
Vielleicht treffen die Aussagen auch zu, ohne dass man sich an konkrete Auslöser erinnern kann. Es ist schwierig, sich all der Mechanismen bewusst zu sein, die uns zu der Person in unserer aktuellen Lage gemacht haben. Vielleicht ist man auch einfach so unzufrieden damit, wie man in bestimmten Situationen handelt.
Handlungen erfolgen allerdings immer auf Basis einer bestimmten Wahrnehmung der Situation und der damit verbunden Gefühle und Einschätzung der Resultate. Wenn man mit den Resultaten seiner Handlung unzufrieden ist, stellt sich die Frage nach den zugrundeliegenden Denkmustern und Gefühlen. Und diese kommen eben meistens durch (un)bewusste Lerneffekte zustande.
Das Problem hierbei sind etwaige dysfunktionale Lernprozesse:
„Lernt“ man als Kind beispielsweise, dass man nur bei Bestnoten die gewünschte elterliche Aufmerksamkeit und Zuneigung erfährt, kann sich das so internalisieren, bis man im Studium aufgrund seines Perfektionismus irgendwann vor dem Burnout steht. In solchen Fällen gilt es, sich bisherige Denkweisen, Wertvorstellungen und Gefühle vor Augen zu führen und sich von ihnen zu emanzipieren.
Ob man sich letztendlich wirklich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, hängt stark vom Leidensdruck, Stressniveau und dem Änderungswillen ab. Es kann auch sein, dass man Probleme erkennt, es aber nicht für lohnenswert erachtet, sich genauer mit ihnen zu befassen, weil man bisher ja doch immer noch irgendwie durchgekommen ist. Das ist legitim.
Zum Teil ist die Vergangenheit aber nicht nur für einen selbst relevant, sondern auch für die sozialen Kontakte. Sobald man andere Personen in die Problematik mit einbezieht, und diese darunter leiden bzw. sich belastet fühlen, kann es auch eine Pflicht sein, sich mit den Problematiken und ihren Ursachen auseinanderzusetzen. Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass einem das Wohlergehen der anderen Person bzw. das Verhältnis zu ihr am Herzen liegt.
Es gibt genügend Fälle, wo das zutrifft; die betroffene Person einer Konfrontation mit den Ursachen aber dennoch aus dem Weg geht. Der Grund hierfür dürfte wohl der Schmerz sein, der zwangsläufig mit dem Aufreißen alter Wunden einhergeht.
Allerdings muss niemand diesen Weg alleine gehen. Neben der (nicht immer gegebenen) Unterstützung durch Freunde und Familie gibt es auch die Möglichkeit, eine Therapie oder Selbsthilfegruppen zu besuchen.
Letztlich ist die Kernfrage hinter alldem: Möchte ich meine Vergangenheit meine Zukunft diktieren lassen? – Ich zumindest möchte das nicht.
Anonym
Solltet ihr einmal ernsthaft Hilfe brauchen, könnt ihr die ambulante Terminvergabe der Uniklinik kontaktieren.
Auch das Studentenwerk hat ein psychologisch-psychotherapeutisches Beratungsangebot. Allerdings kostet hier ein Gespräch zwischen 10 und 15 Euro.
Weiterlesen über psychische Krankheiten und die FAU könnt ihr hier.