Hallo mein Name ist Kim,

Ich habe ADHS.

Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung. Eine Störung, die fälschlicherweise oft nur in Verbindung mit Kindern gesehen wird. Ich bin aber Mitte 20 und studiere. Lange wusste ich nichts davon, was mir meine Kindheit und Jugend nicht gerade einfach machte. Ich dachte, ich wäre dumm, faul und rücksichtslos. Mit mir stimmte etwas nicht. Und in diesem Glauben wuchs ich auf.

 

Zwar weiß ich mittlerweile, was mit mir los ist, verstecken muss ich es aber immer noch. Viel zu viele glauben an eine „Modekrankheit“. Oder eine Ausrede für meine eigene Unfähigkeit. Es ist eine Hin- und Hergerissenheit: Wenn ich sage, warum ich so verplant bin, so chaotisch, so verträumt, so nicht bei der Sache, laufe ich Gefahr, als Lügner abgestempelt zu werden. Wenn ich es nicht sage, glauben sie, ich würde das alles mit Absicht machen – oder ich wäre dumm.

Ich möchte Licht in dieses Dunkel bringen. Ich möchte euch sagen: ADHS existiert. Es ist da. Es gibt Menschen um euch, die damit leben müssen. Ob ihr das jetzt für eine Ausrede haltet oder nicht, ADHS ist da. Ihr seid in eurem Leben schon vielen Adhsler*innen begegnet, ganz bestimmt. Deswegen möchte ich euch mitnehmen – und zwar in meinen Kopf und was er den ganzen lieben langen Tag so denkt und tut.

Der Wecker dringt gewohnt nervig durch meinen gefühlt gerade gefundenen Schlaf. Ich stelle weiter, 15 Minuten gehen noch. Dann frühstücke ich eben wieder nicht. Nach 15 Minuten stelle ich wieder 15 Minuten weiter. 5 Minuten zu spät im Seminar – das ist doch ein Klacks. Jetzt musst du aber hochkommen! Hektisch gebe ich Kaffeepulver in meinen Filter. Wie das Wetter wohl ist? Ich suche mein Handy. 15 Nachrichten in 3 Chats. Kurz mal nachsehen. Auf einmal fällt mir ein, dass ich einem Freund seit Wochen nicht geantwortet habe. Ich schreibe zurück Ach ja – das Wetter. Ich mache Instagram auf. Ein lustiges Meme! Gleich mal in die Story posten. KIM, DAS WETTER! 23 Grad. Ich bin nicht schlauer als vorher: Kurze oder lange Hose? Egal, ich gehe duschen. Jetzt weiß ich auch, was ich anziehen will, aber wo zur Hölle ist das T-Shirt? Ich habe es doch gestern Abend auf den Stuhl gelegt. Zur Hölle?! Okay, den Klamottenstapel nochmal einzeln auseinander nehmen – NICHTS. Ich bin angenervt. ICH HAB ES DOCH DA HINGELEGT! Mein Boden gleicht langsam eher einer Wäscherei. Durch Zufall bemerke ich, dass mein Shirt unter meinem Bett gelandet ist. Endlich kann ich mich anzieheeeeeen…..uuups, der Kaffee! Schnell noch Wasser kochen und den Kaffee in die Thermoskanne packen! Noch zwanzig Minuten bis zum Seminar. OKAY, WO ZUR HÖLLE IST MEIN SCHLÜSSEL?! Ich renne durch die Wohnung, bleibe ungläubig stehen. Wie kann er weg sein? Wieder wüte ich wie ein Wirbelsturm durch meine Wohnung. Als ich dann kurz noch mein Handy suchen musste, gehe ich zehn Minuten bevor das Seminar anfängt los. Zehn Minuten zu spät, schon wieder! Stumm betrete ich den Raum und suche mir einen Platz – bloß nicht rechtfertigen, Kim, sei ganz selbstverständlich. Ich setze mich hin und höre zu, zumindest versuche ich es. Wollte ich mir nicht ein Fahrrad kaufen endlich mal? Wie automatisiert schaue ich wieder auf mein Handy. Eine neue Instagram-Nachricht! Och nö, wieder ein Sexbot. Mein Blick wandert zum Fenster. Zuhause setze ich mich hin und plane endlich mal alles richtig durch! Und ich werde meinen Text lesen. Auf einmal sagt meine Dozentin etwas Interessantes – in derselben Sekunde schnellt mein Finger in die Höhe. Dazu habe ich mir tatsächlich schon mal Gedanken gemacht. Als ich dann wirklich dran bin, rede ich ziemlich viel und ziemlich drumherum. Ich sehe, wie mich alle ansehen, versuche es nicht in etwas Schlechtes zu deuten und merke, wie meine Luft immer weniger wird. Als ich am Ende angekommen bin, fühle ich mich wie ein dummes Stück Brot. Die Dozentin widerspricht mir in einem Teil, aber so falsch war ich nicht. Ich versuche wieder eine gemütliche Sitzposition zu finden und knete meine Hände. Nach ein paar Runden Quizduell ist das Seminar auch zu Ende. Als ich vom Klo wieder komme, kommt mir eine Kommilitonin entgegen, die meine Freundschaftsanfrage auf Facebook nicht angenommen hat, sie ignoriert mich, ich fühle eine eisige Luft, als sie an mir vorbeihuscht, sie sieht demonstrativ weg. Es trifft mich. Was hab ich ihr getan? Letzten Sommer haben wir noch an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet, ich dachte, wir verstehen uns, was hab ich falsch gemacht?
Und wieder sehe ich: Mit mir stimmt etwas nicht. So komisch findet die mich. So komisch bin ich.

Ich gehe nach Hause und setze mich vor den Fernseher. Mein Kopfakku ist leer. Text lesen geht nicht mehr.

Nach ein paar Stunden raffe ich mich endlich auf, einkaufen zu gehen. Ich setze mir Kopfhörer auf, skippe Lied für Lied für Lied. Nichts ist perfekt genug. Endlich was gefunden, mache ich mich auf, im Schnellschritt. Als ich im Supermarkt bin, fällt es mir schwer, zu stoppen – ich weiß, was ich will, aber ich muss erst fünfmal ums Regal herumlaufen, stehen scheint wie eine Qual.

Ich brauche nicht viel und nun finde ich keine Kasse, bei der ich schnell durch bin. Es scheint mir unmöglich, mich jetzt anzustellen. Ich lege alles zurück und gehe wieder. Warten kann ich nicht gebrauchen. Während ich nach Hause gehe, denke ich daran, dass meine Oma Geduld als eine Tugend bezeichnet hat. Tz! Ungeduldige Menschen sind auch ok! Und so laufe ich im Schnellschritt zurück und muss eben einen Tag länger mit dem Tempo als Klopapier vorlieb nehmen.

 

Von Anonym

 

Weitere Infos über ADHS findet ihr hier.

Wenn ihr einen Verdacht habt, könnt ihr auch am Uniklinikum Erlangen einen Termin in der Ambulanz machen. Dort wird euch weitergeholfen.