Es ist Sonntag, der 22. März 2020, 19 Uhr 30 Minuten. Wäre alles normal, säße ich gerade auf einer Geburtstagsfeier zum 80. Geburtstag der Cousine meines Opas.

Wäre alles normal, hätte ich meine Großeltern, die in diesem Jahr ebenfalls 80 Jahre alt werden, heute früh (sehr früh, so gegen 7 Uhr früh) abgeholt. Wir hätten uns in mein kleines Auto gequetscht und wären nach Baden-Württemberg gefahren. Ich hätte Menschen kennengelernt, die mit mir verwandt sind und die ich doch in meinem Leben noch nie gesehen habe. Ich hätte wahrscheinlich ein sehr leckeres Essen bekommen und gute Gespräche geführt. Hätte meinen Opa gesehen, der (mit dem Ansatz von Tränen in den Augen) all die Verwandten nochmal sieht, die so nah sind und für ihn doch so fern.

Aber es ist nichts normal. Es ist Krise. Das Corona-Virus hat uns alle fest im Griff, in Erlangen, in Bayern, in Deutschland, in Europa, weltweit. Und jetzt sitze ich hier, in Erlangen, zu Hause und mache mir Gedanken über die aktuelle Situation, was mich eher negativ stimmt. Ich habe Angst. Um meine Großeltern, um meine Eltern, um die Zukunft.

Dann überlege ich, wie es wohl in exakt einem Jahr aussehen könnte, am 22.03.2021. Das wird ein Montag sein. Ich werde morgens aufstehen und mich vielleicht innerlich darüber beschweren, dass das Wochenende schon wieder vorbei ist und ich zur Arbeit muss.

Im Bad werde ich in den Spiegel sehen und danach auf mein Handy, auf dem die Erinnerung aufleuchtet, dass ich vor genau einem Jahr diesen Artikel geschrieben habe und dass ich ihn nochmal durchlesen wollte. Ich werde in die Küche gehen, mir eine große Tasse Kaffee machen und mich dann an den Schreibtisch setzen. Ich werde in meinem Zettelchaos suchen und die ausgedruckten Seiten finden und sie lesen, während ich gelegentlich von meinem Kaffee nippe, so viel Zeit hab ich vor Arbeitsbeginn schon noch!

Was wird sich also in exakt einem Jahr verändert haben? Was werden wir aus der Krise gelernt haben? Wie werden WIR uns verändert haben? Meine Oma sagt oft „selten ein Schaden, wo kein Nutzen dabei ist“. Am 22.03.2020 sehe ich in den Medien viel von dem Schaden, den das Virus anrichtet. Die Infektionszahlen, die quasi stündlich nach oben ticken, die Zahl der Toten, die leider ebenso stetig nach oben korrigiert wird. Die Auswirkungen auf Unternehmen, Restaurants, Pfleger*innen, Mitarbeiter*innen in Supermärkten, auf alle. Ich möchte meine Oma fragen: „Wo, bitte, ist denn da der Nutzen?!“. Vielleicht zeigt der sich im Nachhinein.

Vielleicht können wir in einem Jahr wieder halbwegs normal unserer Arbeit oder unserem Studium nachgehen. Vielleicht nutzen wir wieder bedenkenloser öffentliche Verkehrsmittel und setzen uns in Cafés, um die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zu genießen.

Vielleicht haben wir aber auch gelernt, dass ein bisschen Abstand zueinander nicht schadet. Dass wir nicht drängeln und schubsen müssen, sondern auch mal einen Schritt zurücktreten, um jemanden vorbei zu lassen. Dass wir dafür mit einem erleichterten Lächeln belohnt werden. Vielleicht lernen wir aus der aktuellen Situation, dass Warten nicht schlimm ist und Drängeln nicht nötig.

Vielleicht haben wir uns gemerkt, dass es mehr gibt als uns selbst, dass es wichtig ist, zusammenzuhalten, sich zu unterstützen, Regale nicht leer zu kaufen, sondern für andere etwas übrig zu lassen. Vielleicht haben wir dann bemerkt, dass neben uns Menschen wohnen, die Hilfe brauchen könnten, auch nach der Krise. Vielleicht haben wir bemerkt, dass wir nicht immer alles sofort brauchen, sondern uns auch mal mit weniger zufrieden geben könnten.

Vielleicht merken wir, dass nicht das weiteste, verrückteste, exotischste Urlaubsziel entscheidend ist oder Likes in sozialen Medien. Vielleicht wissen wir dann die ganz alltäglichen Begegnungen wieder mehr zu schätzen, mit Freund*innen, der Familie, den Großeltern.

Vielleicht sehen wir dann, dass Menschen in ganz alltäglichen Berufen wahre Held*innen sind, weil sie auch in schwierigen Situationen nicht klein beigeben und sich zurück ziehen, sondern Verantwortung übernehmen und dafür ihre eigene Gesundheit, sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen. Vielleicht werden wir zu diesen Menschen in Zukunft freundlicher sein, ihnen mal ein Lächeln schenken oder ein freundliches „Danke, schönen Tag noch!“.

Vielleicht werden wir in einem Jahr immer noch ein bisschen Ruhe zu schätzen wissen, ein bisschen Rückzug und Entspannung statt ständigem herumhetzen zwischen einem Termin nach dem anderen.

Vielleicht werden wir dann weiterhin öfter mal Konferenzen oder Besprechungen per Telefon oder Videokonferenz abhalten, statt rund um den Globus zu fliegen. Vielleicht haben wir eingesehen, dass weniger Flug- und Autoverkehr einen recht direkten Einfluss auf die Luftqualität haben, weil 2020 vielleicht das erste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen war, in dem die CO2-Werte gesunken statt gestiegen sind.

Vielleicht werden wir begriffen haben, dass wir alle verbunden sind. Vielleicht werden wir einsehen, dass wir alle gleich sind, egal wo wir herkommen, wie wir aussehen, ob wir reich oder arm sind, gebildet oder ohne Zugang zu Bildung aufgewachsen, dass wir alle gleich anfällig sind und nur gemeinsam zu wirksamen Lösungen finden, dass wir zusammenarbeiten müssen statt immer nur gegeneinander. Vielleicht haben wir bemerkt, dass Geld und wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis nicht das Wichtigste sind.

Vielleicht gehen einige dieser „Vielleichts“ zu weit, vielleicht wird sich nicht so viel ändern und wir gehen nach der Krise wieder zum vorherigen Status Quo über. Doch vielleicht, hoffentlich, werden wir einige Erkenntnisse mitnehmen, die Augen nicht mehr verschließen, sondern offen halten. Offen für unsere Mitmenschen und deren Bedürfnisse und Grenzen. Offen für eine Veränderung unseres Verhaltens. Offen für neue Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu treten und zu bleiben. Offen für die Probleme auf der Welt, für die Probleme des Planeten selbst. Offen für kreative Lösungen und andere Aktivitäten.

Ich werde meinen Kaffee ausgetrunken haben, an jenem 22.03.2021. Ich werde den Artikel gelesen haben und wieder so nachdenklich sein wie am 22.03.2020 auch. Aber ich werde aufmerksamer in den Tag gehen, werde die vielen schönen Dinge zu schätzen wissen, den Kinobesuch, den Kaffeeklatsch mit Freund*innen, den Besuch bei den Großeltern. Ich werde unglaublich dankbar sein für die Fortschritte, die die Forschung bis dahin gemacht hat, für Medikamente oder Impfungen, die ein wenig mehr Sicherheit zurück bringen.

 

Von Annika Schwarm