Warum Hamstern nicht sinnvoll, unsolidarisch und ein sich selbst bestätigender Teufelskreis ist.
Corona hat Deutschland im Griff. Veranstaltungen werden abgesagt, Schulen geschlossen, Arbeitnehmer*innen sollen nach Möglichkeit ins Home Office. Bereits Wochen, bevor diese strikten Maßnahmen ergriffen wurden, zeigte sich die Angst vor Corona bereits in den Supermärkten und Drogerien in Form von leeren Regalen und ausverkauften Waren.
In Deutschland sind wir es gewohnt, dass wir unserem Leben weitgehend uneingeschränkt nachgehen können. Wir sind volle Supermarktregale gewohnt. Wir sind es gewohnt, dass wir arbeiten gehen, uns im öffentlichen Raum bewegen, uns mit anderen Menschen treffen und an Veranstaltungen teilnehmen können. Wenn diese Gewissheiten und Gewohnheiten Stück für Stück in Frage gestellt werden, dann ist es verständlich, dass Menschen sich sorgen und reagieren.
Eine weit verbreitete Reaktion ist es, in den nächsten Supermarkt zu gehen und zu „hamstern“, also übermäßig große Mengen an Lebensmitteln einzukaufen, um sich vor vermeintlichen Engpässen zu schützen. Dabei ist gegen eine vernünftige Vorratshaltung mit Maß und Ziel freilich nichts einzuwenden. Das Problem ist eher, dass plötzlich aus Panik Vorräte angelegt werden, die einerseits nicht mehr in absehbarer Zeit verbraucht werden können und andererseits tatsächlich die Versorgung mit Lebensmitteln bedrohen.
In der Soziologie bezeichnet man dieses Phänomen als Self-fulfilling Prophecy. Viele Menschen haben wegen Corona Angst, dass es zu Versorgungsengpässen kommen könnte und hamstern dementsprechend, kaufen also übermäßig viel ein. Durch diesen übermäßigen Einkauf von Produkten, der deutlich über dem eigentlichen Bedarf und somit über dem bereitgestellten Angebot liegt, kommt es dann tatsächlich zu Versorgungsengpässen: Die Regale sind leer, die Waren ausverkauft. Dabei ist nicht Corona die Ursache der Engpässe, sondern unsere Angst vor Corona und vor defizitärer Versorgung.
Die dann entstehenden Engpässe sind vor allem für die Personen besonders gravierend, die eben nicht die Ressourcen und Möglichkeiten hatten, sich mit Lebensmittel einzudecken. Engpässe treffen die Gruppen, die ohnehin besonders vulnerabel und unterprivilegiert sind.
Wie irrational das Hamstern an sich ist, wird deutlich, wenn man die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen in Deutschland und den meisten anderen Ländern des globalen Nordens genauer betrachtet. Wir leben in Gesellschaften, die zu hohem Maß funktional differenziert sind. Das heißt: Wir haben eine sehr stark ausgeprägte Arbeitsteilung durch Berufe und darüber hinaus durch gesellschaftliche Teilbereiche, die bestimmte Funktionen übernehmen. Die Folge dieser funktionalen Differenzierung ist, dass alle Menschen innerhalb der Gesellschaft in höchstem Maße von den jeweils anderen Menschen abhängig sind, da kein Mensch und kein gesellschaftlicher Teilbereich alleine alle Funktionen aufbringen kann, die für das individuelle und gesellschaftliche Überleben notwendig sind.
Was jetzt sehr abstrakt klingen mag, ist eigentlich ganz einfach: Wir sind auf unsere Mitmenschen und das Funktionieren der etablierten Strukturen angewiesen. Denn niemand ist in der Lage, allein alle notwendigen Funktionen zu erfüllen. In Zeiten von Corona sind die (landwirtschaftliche) Produktion von Lebensmitteln, der Einzelhandel und die Medizin zentral, beziehungsweise die Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten. Wir können ohne diese Menschen und die Leistungen, die sie für die Gesellschaft erbringen, nicht überleben.
Diese grundlegende und massive Abhängigkeit macht deutlich, dass das Hamstern schlicht und einfach sinn- und zwecklos ist. Man kann sich womöglich einen Vorrat für zwei oder drei Wochen anlegen, aber wenn die begrenzten Vorräte aufgebraucht sind, müssen wir alle im Supermarkt für Nachschub sorgen. Man mag sich mit Desinfektionsmittel eindecken, aber ohne eine anständige Gesundheitsversorgung werden wir diese Krise nicht überstehen können.
Letztendlich sind wir darauf angewiesen, dass die gesellschaftlichen Strukturen, die unser Überleben sichern, auch in dieser Krise weiterhin Bestand haben. Wir müssen für ihren Erhalt und ihr Funktionieren kämpfen. Wenn wir uns aber unsolidarisch mit Vorräten eindecken, die wir gar nicht verbrauchen können und so tatsächlich Versorgungsengpässe hervorrufen, dann tragen wir zum Kollaps der Strukturen bei, von denen wir alle abhängig sind.
Jetzt ist es an der Zeit, sich nicht von der eigenen Panik beherrschen zu lassen, sondern das eigene Verhalten so anzupassen, dass das Fortbestehen der gesellschaftlichen Strukturen nicht gefährdet wird. Darunter fällt ein verantwortungsvolles und solidarisches Kaufverhalten genauso wie das Meiden öffentlicher Räume und soziale Distanznahme. Dann werden wir diese Krise gut überstehen können – und vielleicht sollten wir danach darüber nachdenken, wie wir die Abhängigkeiten von den gesellschaftlichen Strukturen reduzieren können, die uns jetzt so schmerzlich bewusst werden.
Von Eric Hartmann