Diese unveröffentlichte Reportage entstand im Januar 2020 für Philipp Nazareths Bewerbung an der Deutschen Journalistenschule in München. Das Reportagethema lautete: „Setzen Sie sich an einem Freitagnachmittag in einen Zug und finden Sie Ihr Thema”.
Es ist 14.55 Uhr an einem Freitagnachmittag als Christian Kiesel in seinem Feldanzug aus dem Zug steigt und den Bahnsteig betritt. Schweinfurt in Unterfranken. Kiesel war noch am Vormittag in Berlin, hat eine dreistündige Zugfahrt hinter sich. Auf dem Bahnsteig begrüßen Familien ihre Angehörigen. „Schön oder? So ist das immer hier. Meine Tochter wartet im Auto auch schon auf mich“, erzählt er stolz. Dann
greift Kiesel nach seinem Koffer und geht in schnellen Schritten in Richtung Parkplatz. Dort wird er gleich seine Frau und seine fünfjährige Tochter in den Arm nehmen und gut zwei Tage oder 52 Stunden zuhause sein – bevor er am Sonntag zurück nach Berlin fährt. Wie jede Woche.
Kiesel ist 44, Oberstleutnant und Wochenendpendler. Er ist seit 1994 bei der Bundeswehr und seit einem halben Jahr in Berlin, wo er im Verteidigungsministerium eingesetzt ist. Davor: Bataillonskommandeur in Weiden, Kontingentführer der deutschen Kosovo-Truppe in Prizren, Planungsoffizier in Afghanistan. Und zahlreiche andere Stationierungen. Wie die meisten Bundeswehrsoldaten bleibt Kiesel nie dauerhaft in einer Kaserne, sondern wird in unregelmäßigen Abständen an einen neuen Standort versetzt. Wollen Ehepartner und Kinder nicht ständig mit
umziehen, bleibt vielen Soldaten nur das wöchentliche Pendeln zwischen Kaserne und Familie. So wie bei Kiesel. „Ich kenne Kollegen, die sechs oder sieben Mal umgezogen sind“, erzählt er. „Die konnten irgendwann nicht mehr.“ Vor allem für die Kinder seien die ständigen Schulwechsel belastend. Der Soldat selbst, meint Kiesel, leide noch am wenigsten unter den ständigen Versetzungen. „Man kommt in eine neue Kaserne und weiß: den Kameraden geht es genauso. Das verbindet.“
Wenig später, ein Café in der Nähe des Bahnhofs. Kiesel spricht über seine Arbeit in Berlin, Kameradschaft in der Bundeswehr und das Standing der Armee in Deutschland. Er wirkt ausgeglichen und wach; seine Frau und seine Tochter sitzen neben ihm. Kiesel lächelt den beiden während des Gesprächs immer wieder zu. Kiesels Frau ist Pädagogin, die beiden haben sich vor 10 Jahren kennengelernt. „In Afghanistan war ich noch Single. Da hat man viel weniger Verantwortung“, erinnert er sich. „Bei meinem Einsatz im Kosovo 2018 war ich dann schon Familienvater. Die Lage dort war aber sicherer. Und wir konnten jeden Tag skypen, das wäre früher auch nicht möglich gewesen.“ Das abendliche Telefonieren mit Video sei seitdem geblieben. „Außerdem besuchen wir ihn auch und lernen so Berlin kennen“, schiebt seine Frau nach.
In Berlin arbeitet Kiesel im Personalmanagement der Armee. Bisweilen keine leichte Aufgabe, wenn einzelnen Soldaten zum Beispiel Rechtsterrorismus vorgeworfen werde, so Kiesel. Bei der Bundeswehr ist Kiesel seit 1994, als er seine Ausbildung zum Offizier und ein BWL- Studium begann. „Eigentlich wollte ich Pilot werden, hatte aber, wie so viele, nicht die körperliche Eignung. So bin ich zur Artillerie gekommen. Und ich habe es nicht bereut.“ Wenn man Kiesel nach seiner Arbeit als Bundeswehrsoldat fragt, fällt immer wieder das Wort Kameradschaft. Ein Begriff, den mancher für verstaubt und nicht mehr zeitgemäß hält. „Viele können sich darunter nichts mehr vorstellen, aber ich finde, das passt ganz gut.“ Daneben sei da noch die Abwechslung, die den Beruf attraktiv mache. Und der finanzielle Aspekt. Je nach Sicherheit eines Einsatzlandes bekommen Soldaten zusätzlich zu ihrem Gehalt eine Art
Risikoaufschlag. „Da kann ich auch etwas für die Ausbildung meiner Tochter zurücklegen.“
„Und dann ist es einfach auch ein wichtiger Job“, sagt Kiesel plötzlich mit Nachdruck. „Auch wenn das nicht von allen so wahrgenommen wird.“ Eine Anspielung auf das nach wie vor schwierige Standing der
Bundeswehr in Deutschland. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler hat in diesem Zusammenhang 2005 den Begriff „freundliches Desinteresse“ geprägt: Die Deutschen würden ihre Bundeswehr akzeptieren und ihr vertrauen; von Interesse oder Stolz könne man aber nicht sprechen. Kiesel sehe das leider genauso. „Das ist in anderen Ländern ganz anders“, sagt Kiesel ein wenig enttäuscht und schwärmt dann von seinen positiven Erfahrungen mit der US-Armee und den freundlichen Begegnungen im Kosovo.
Immer noch im Café. Kiesel blickt auf die Uhr und hat es auf einmal eilig. Er müsse sich verabschieden, sie wollten noch ins Kino gehen. „Den neuen Star Wars ansehen“, fügt er mit einem Lächeln hinzu. Auf dem Weg nach draußen setzt er seine rote Feldmütze auf den Kopf und nimmt seine Tochter an der Hand. Zuhause wird Oberstleutnant Kiesel seinen Feldanzug ablegen und ganz in die Rolle des Familienvaters schlüpfen. Bis Sonntagabend 19.02 Uhr. Dann geht sein Zug zurück nach Berlin. Wie jede Woche.
Von Philipp Nazareth