Weihnachten hat man in Russland gestern gefeiert, also am 7. Januar. Aber…ist das nicht eigentlich zwei Wochen zu spät? Na ja, kommt drauf an! Martin befasst sich mit dieser Zeitverschiebung und warum Weihnachten welchen Stellenwert in Deutschland und Russland hat.

 

Was ist das wichtigste Fest des Jahres? Einem Großteil der in christlichen Ländern lebenden Menschen würde die Antwort darauf ziemlich leicht fallen: Natürlich ist es Weihnachten! Heutzutage kann man sogar ein Atheist sein und trotzdem die Geburt Jesu zelebrieren – wenn auch in einer profanierten und kommerzialisierten Form. Weihnachten scheint Konfessionen zu einen und ein weltumspannendes Phänomen zu sein. Und doch existiert eine Reihe christlich geprägter Länder, wo Weihnachten keinen Höhepunkt im Jahreskalender darstellt, so z.B. in Russland. Wieso? Dafür muss man einen kleinen geschichtlichen Exkurs machen!

Vor dem Jahr 1917 zelebrierte man im russischen Zarenreich das Weihnachtsfest und ließ die Arbeit am 25. Dezember ruhen. Es wäre aber unpassend gewesen, an diesem Tag einem Handelspartner in Europa einen festlichen Gruß zu telegrafieren, denn dort war es bereits der 7. Januar. Dies hat jedoch nichts mit Zeitschleifen oder Paralleluniversen zu tun, in welchen sich das russische Zarenreich und der Rest der Welt befunden haben konnten, sondern lediglich mit zwei unterschiedlichen Kalendersystemen, die damals im Gange waren.

Im Jahre 1582 führte nämlich Papst Gregor XIII. den gregorianischen Kalender ein, welcher den noch unter Julius Caesar eingeführten julianischen Kalender ablöste. Dieser war nämlich etwas ungenau, sodass der Frühling nicht am 21. März, sondern 1500 Jahre nach der Einführung des neuen Kalenders schon am Elften begann. Deshalb ließ man zehn Tage einfach ausfallen, nach dem 4. Oktober folgte der 15. Oktober 1582. In Russland aber wurde der julianische Kalender bis zum Jahr 1918 weiterbenutzt – die Differenz betrug zu diesem Zeitpunkt bereits 13 Tage. Zwar stieg die Sowjetunion auf den gregorianischen Kalender um, nicht aber die russisch-orthodoxe Kirche. Und so wird Weihnachten in Russland noch heute am 7. Januar gefeiert (laut dem julianischen Kalender ist ja an diesem Tag der 25. Dezember). Wieso aber genießt Weihnachten in Russland nicht den gleichen Stellenwert wie in Deutschland?

Im Jahr 1929 wurde das Begehen des Weihnachtsfestes sowie aller anderen kirchlichen Feiern in der Sowjetunion gesetzlich verboten – Kirche und Kommunismus vertragen sich bekanntlich nicht so gut miteinander. Stattdessen führte man 1935 die Neujahrsfeierlichkeiten ein – diese sollten das Weihnachten für die breiten Bevölkerungsmassen ersetzten. Der Weihnachtsbaum hieß fortan Neujahrsbaum (genauer gesagt war es meist die Neujahrsfichte), Geschenke gab es natürlich an Silvester und nicht an Heiligabend und diese wurde nicht etwa vom Weihnachtsmann, Christkind oder Sankt Nikolaus gebracht, sondern von Großväterchen Frost, begleitet von seiner Enkelin, dem Schneemädchen. Diese neu eingeführten Traditionen verankerten sich im Laufe der darauffolgenden 50 Lebensjahre unter dem sozialistischen Regime der Sowjetunion dermaßen stark im Kollektivgedächtnis der Gesellschaft, dass auch die Wiedereinführung des Weihnachtsfestes im Jahr 1990, also nach dem Zerfall der Sowjetunion, bis heute noch nicht allzu viel daran ändern konnte.

Zwar erfreut sich Weihnachten einer immer größeren Popularität in der Bevölkerung, vor allem im Zuge der immer mächtiger werdenden russisch-orthodoxen Kirche und dem wieder erstarkenden Glauben in der Bevölkerung. Allerdings verbleibt Weihnachten selbst nach 30 Jahren immer noch auf einer vor allem religiösen Ebene. Man könnte das Verhältnis vieler Russen zum orthodoxen Weihnachten vielleicht mit der Beziehung vieler Deutschen zum Osterfest vergleichen – es genießt für viele Menschen einen sehr hohen Stellenwert, beansprucht aber dann doch nicht die Gipfelposition.

Es wäre wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass für die meisten Deutschen Weihnachten ein fester Bestandteil ihrer kulturellen Identität ist. Man muss gar nicht gläubig sein, um den Kanon der gegen Ende Dezember durchgeführten Rituale, darunter einen geschmückten Christbaum, eine gemeinsam mit der Familie verbrachte Zeit und auch die Geschenke, als „heilig“ zu erachten. Wir identifizieren uns mit oder sogar teilweise durch Weihnachten und andere Feste, Traditionen, Bräuche, Werte.

Während also für die meisten Deutschen das Weihnachtsfest einen Teil ihrer kulturellen Identität darstellt, ist es für die meisten Russen das Neujahrsfest. Auch in Russland sagt man manchmal, die Zusammenkunft mit der Familie an Silvester, ein reichgedeckter Tisch mit Wodka, Kaviar und Salat Olivier und die Geschenke unter der Neujahrsfichte seien etwas „Heiliges“. Man könnte in diesem Kontext schon fast von einer Resakralisierung eines profanen Feiertages sprechen.

In der Regel sind identitätsstiftende Feierlichkeiten unzertrennbar mit unserer Persönlichkeit verbunden. Von großem Interesse sind daher Fälle, in denen sich das soziale Umfeld eines Menschen verändert. Nehmen wir an, eine Person wandert von Russland nach Deutschland aus. Inwieweit sich der Stellenwert von Weihnachten und Neujahr für diese Person ändern wird, hängt von sehr vielen Faktoren ab und kann daher eher schlecht vorhergesagt werden. Während es in einer Familie bereits im Jahr der Ankunft Geschenke sowohl zu Weihnachten als auch zu Neujahr gibt, stellt für andere Familien auch nach 20 auf deutschem Boden verbrachten Lebensjahren der 25. Dezember kein besonderes Datum dar. Generell kann man aber davon ausgehen, dass „fremdartige“ Elemente, z.B. die deutsche Version von Weihnachten für Menschen aus Russland, eher langsam aufgenommen werden und nur peu à peu zu einem Teil der eigenen kulturellen Identität werden.

Zum Abschluss könnte man noch einen kleinen Ausblick in die Zukunft wagen und sich fragen, ob sich Weihnachten auch in Russland als das wichtigste Fest des Jahres behaupten werden wird, und ob die russisch-orthodoxe Kirche sich vielleicht sogar wagt, auf den gregorianischen Kalender umzusteigen und zusammen mit der ganzen Welt die Geburt Christi zu feiern und nicht erst mit einer „Verspätung“ von zwei Wochen. Heutzutage aber würde die Antwort eines in Russland lebenden Menschen auf die eingangs gestellte Frage ziemlich eindeutig ausfallen: Natürlich ist es das Neujahrsfest!

Bild & Text von Martin Scherbakov