TW: Psychische Gesundheit, Unfälle. || In der neuesten Folge ihrer Ehrenamtskolumne spricht Nadja diesmal über ein ernstes Thema: Die Psychische Gesundheit von (freiwilligen) Feuerwehrleuten.

 

Der Regen prasselt auf mich herunter. Nachdenklich blicke ich auf meine pinken Plüschsocken
hinunter. Platsch – Platsch – Platsch. Ich spüre das Geräusch meiner Hausschuhe auf dem nassen
Asphalt mehr als dass ich es höre. Alles klingt gedämpft, als wären meine Ohren mit Watte gefüllt.
In meinem Kopf ist ein einziges Durcheinander. Zu viele Gedanken auf zu wenig Raum. Immer wieder
einmal lichtet sich der Nebel und ich höre Schmerzensschreie. Dann wieder Nebel. Mich fröstelt. Von
meinen Gedanken und von dem Regen, der auf meinem Nach-Hause-Weg vom Feuerwehrhaus
unablässig auf mich herabtropft.

Während der Pandemie dürfen wir nach dem Einsatz nicht zusammen im Gerätehaus sitzen. Wir
müssen nach den Aufräumarbeiten sofort nach Hause. An sich ist das nicht schlimm und eine
vollkommen gerechtfertigte Maßnahme. Doch nimmt es einem auch die Gelegenheit, den Einsatz
gemeinsam sacken zu lassen.

Platsch – Platsch – Platsch. Ich komme aus dem Grübeln nicht raus. Die Welt scheint langsamer zu
laufen. Zumindest verglichen mit der Geschwindigkeit der Gedanken in meinem Kopf. Wieder ein
Schrei.

Für gewöhnlich verschwinden bei mir die Bilder und Geräusche, wenn wir uns nach dem Einsatz noch
zusammensetzen und darüber reden. Doch vieles läuft während Corona nicht gewöhnlich. Darüber zu
sprechen und den Gesprächen zuzuhören bringt sie aus dem Körper raus. Mir ist klar, dass sie raus
müssen. Doch wohin?

Wie automatisch tragen mich meine Beine zu meinem Großeltern. „Bin wieder da“, begrüße ich
meinen Opa und setze mich zu ihm auf die Couch. Freundlich lächelt er mich an und wendet sich
wieder seiner Krippenfigur zu. Sein Messer schabt immer wieder über das Stück Holz in seiner Hand.
Über seine Brille mustert er mich kurz und schnitzt stillschweigend weiter. Er lässt mir Zeit. Er weiß,
wie schwer manchmal das Reden sein kann und lässt mir Zeit, um meine Gedanken zu sortieren und zu
formulieren

„Hatten du und deine Kamerad:innen schwierige Einsätze?“, breche ich nach geraumer Zeit das
Schweigen. Ich weiß, dass es schlecht formuliert ist und nicht den Kern der Sache trifft, doch es ist ein
Anfang.

Mein Großvater, der selbst 42 Jahre im aktiven Feuerwehrdienst tätig war, lässt nun Holz und Messer
sinken und erzählt: „Ja, hatten wir. Großbrände, bei denen ein Bauer sein ganzes Hab und Gut verloren
hat. Brände, bei denen wir die Tiere nicht rechtzeitig aus den Stallungen befreien konnten. Ruinen mit
Leichen von Personen, für die wir zu spät gekommen sind. Unfälle. Es gab zwar nicht so viele Autos,
doch bei Unfällen gab es weniger Überlebende.

Es wird schwierige Einsätze geben, solange es die Feuerwehr gibt. Denn als Feuerwehrleute werden wir dann gerufen, wenn sonst keiner helfen kann. Sei es nun, wenn wir eine:n Patienten:Patientin zum Notarzt bringen müssen oder eine Leiche zum Bestatter. Weißt du, deshalb war es so wichtig, sich nach dem Einsatz im Floriansstüberle noch zusammenzusetzen und  etwas zu trinken. Um über den Einsatz zu sprechen. Darüber zu reden. Oder eben bewusst nicht darüber zu reden. Um sich davon abzulenken.

Man war von Menschen umgeben, die gerade das gleiche erlebt haben wie man selbst. Man musste nichts erklären oder erzählen. Wenn man das Bedürfnis hatte, zu reden, dann hat man das getan. Und wenn man nicht reden wollte oder konnte, hat man eben den anderen dabei zugehört. Wir waren nicht allein, wir hatten uns.“

Ich nicke. An anderen Stellen hat mir Opa schon von einigen seiner Einsätze erzählt. Auf 42 Jahre
kommt so einiges zusammen. Wieder verfallen wir in Schweigen. Mein Großvater nimmt wieder seine
Schnitzarbeit auf.

„Hattet ihr Angst vor Einsätzen?“, frage ich nach einer geraumen Zeit schließlich.

Er antwortet: „Natürlich hatten wir das. Vor allem später. Ein paar Kameraden waren in etwa im
gleichen Alter wie ich. Wir waren Familienväter. Bei der Anfahrt zu jedem Autounfall haben wir
innerlich gebetet, dass wir das Auto nicht kennen. Dass es nicht einer unserer Kameraden ist. Dass es
nicht eine unserer Ehefrauen ist. Dass es nicht das Auto unserer frisch volljährig gewordenen Kinder
ist. Jede:r hätte Angst gehabt. Das ist doch selbstverständlich. Als wir dann endlich das Unfallauto
erblickten, ist immer eine Last von uns abgefallen. Die Situation war noch genau so ernst. Wir standen
immer noch unter Strom. Wir haben alles gegeben. Doch der Einsatz hat uns nicht persönlich betroffen
und das machte es einfacher.“

Wir versanken wieder ins Schweigen. Jede:r in seine:ihre eigenen Gedanken vertieft.

So langsam lichtete sich der Nebel in meinem Kopf. „Heute ist jemand auf einer Baustelle von einem
sechs Meter hohen Gerüst gefallen“, erzählte ich schließlich. „Wir waren ohnehin zu viele
Einsatzkräfte vor Ort, so bin ich am Fahrzeug geblieben. Doch ich konnte ihn hören, als sie ihn von
unserer Trage auf die Trage des Rettungswagens hoben.“

Opa stieß einen langen Pfiff aus. „Sechs Meter sind schon eine Hausnummer.“

Nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu, was mir eigentlich auf dem Herzen lag: „Die äußeren
Verletzungen scheinen sich für die Höhe in Grenzen zu halten. Doch ob er es überlebt, wird man erst in
einer Woche sehen. Wie stark eben die inneren Verletzungen sind.“

Mein Großvater schneidet wieder ein paar Holzstücke ab. So langsam beginnt das Holz einem Schaf zu
ähneln. „Du musst dir eins merken. Alles, was du an einem Einsatz vorfindest, ist nicht deine Schuld.
Du bist nur gekommen, um zu helfen. Und wenn ihr eure Arbeit getan habt, liegt alles danach in Gottes
Hand. Der Mann liegt dank euch nun im Krankenhaus. Und dort hat er deutlich mehr Chancen als in
irgend einer Baugrube.“

Ich nicke meinem Opa dankbar zu. Schweigend sitzen wir zusammen auf der Couch. Der Nebel
verschwindet. Die Schmerzensschreie in meinem Kopf verstummen. Auf einmal merke ich, dass ich
richtig Hunger habe. Was wohl in meinem Kühlschrank noch zu finden ist?

Wir leben inzwischen in einer Zeit, in der Stück für Stück versucht wird, das Tabuthema psychische
Belastung aufzuheben. Nicht nur für große Standorte, sondern auch für kleine Feuerwehren im
ländlichen Raum. Denn hier fehlen Anonymität und Routine. Die Wahrscheinlichkeit, dass man die
Patient:innen kennt, ist sehr hoch. Und die Anzahl der schweren Einsätze zu gering, um in die Aufgabe
„hineinzuwachsen“. Und gerade, weil es so ein wichtiges Thema ist, ist „Physische und Psychische
Belastung im Einsatzdienst“ sogar ein Thema in der Grundausbildung geworden.

Unser Ausbilder erklärte es folgendermaßen: „Jeder Mensch hat einen Eimer. Immer wenn uns etwas
Stress bereitet, kommt Wasser in den Eimer. Wenn wir Stress abbauen, schöpfen wir eine bestimmte
Menge an Wasser heraus. Wenn zu viel Wasser in dem Eimer ist, reicht auch eine kleine Menge aus, um
ihn zum überlaufen zu bringen. Ob also nun ein Einsatz schlimm oder nicht schlimm für eine:n
Kameraden:Kameradin ist, hängt von der Menge an Wasser ab, die er:sie vorher in seinem Eimer schon
herumgetragen hat.“

Wichtig ist, darüber zu reden. „Nur mit Reden bekommt man den Einsatz aus dem Körper raus.“ Ob es
nun Kamerad:innen, Freund:innen oder Familienangehörige sind, spielt dabei keine Rolle. „Und sollte es nach drei oder vier Tagen nicht besser werden, geht auf einen eurer Vorgesetzten in der Feuerwehr zu.
Die wissen, wie sie euch helfen können.“

Wie in der Grundausbildung wird das Thema auch in den Übungen angesprochen.

„Passt auf euch auf, es hat keine:r etwas davon, wenn ihr mit einem Knacks nach Hause kommt“.
Von unseren Kommandant:innen wird klar kommuniziert, dass wir beim Einsatz nicht nur auf unsere
körperliche Unversehrtheit achten sollen.

„Jede:r braucht nur das tun, was er:sie sich zutraut.“

Es ist nicht unser Beruf. Wir machen das als Hobby. Aus Überzeugung. Helfen kann viele Facetten
haben. Doch keine davon beinhaltet, ohne Rücksicht auf eigene Verluste alles zu geben.

„Wenn jemand das nicht machen möchte, ist das kein Thema. Sagt dem Gruppenführer Bescheid und
bleibt am Fahrzeug.“

Gerade die Einsätze der technischen Hilfeleistung, v.a. Autounfälle sind leider oft mit Schwerverletzten
verbunden. Menschen, die aus Autowraks geschnitten werden. Die bluten. Denen Finger fehlen. Die
unter starken Schmerzen schreien.

Der Feuerwehrdienst hat seine Sonnen- und Schattenseiten. Über 99% der Zeit bewegen wir uns in
der Sonne. Und die Kamerad:innenschaft und Freund:innenschaften, die sich während dieser Zeit bilden, helfen uns, diese knapp 1% des Schattens abzufangen. Wir wissen, zu wem wir gehen können. Wir wissen, dass wir einander helfen können. Wir wissen, dass wir menschlich sind.

 

Von Nadja Zeitler

 

Beitragsbild: Nadja Zeitler