Getauft in der russisch-orthodoxen Kirche, wuchs Martin in Erlangen in einem katholisch-lutherischem Umfeld auf. Sein Opa ist jüdisch und Martin begleitet ihn regelmäßig in die Synagoge. Über sein persönliches Verhältnis zum Glauben reflektiert der Autor in diesem Artikel.

„Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?“ fragt die junge Gretchen ihren Verführer in Goethes zeitlosem Meisterwerk. Eine klare Antwort erhält sie bekanntlich nicht. Heutzutage aber ist eine Erkundigung nach der Religionszugehörigkeit schon lange keine Gretchenfrage mehr. Ob man nun einer Religionsgemeinschaft angehört oder nicht ist eine Frage, die in unserem Alltag fast schon dem Charakter einer juristischen Formalie gleichkommt. Kein Wunder, denn in Deutschland ist die Antwort darauf an so banale Dinge wie Steuern gebunden. Ob man aber gläubig ist, bleibt selbst heute noch oft eine höchst persönliche Frage, auch wenn man im Jahr 2021 als Atheist:in oder Agnostiker:in nicht wie Dr. Faust beim Antworten in eine Zwickmühle gerät.

Des Öfteren gibt es daher auch gewisse Diskrepanzen zwischen dem, was auf dem Papier steht und was ein Mensch tatsächlich empfindet. Mein Lebenslauf kann dies vielleicht ganz gut veranschaulichen: Ich wurde im Jahr 2000 in Sankt Petersburg in Russland geboren und in einer russisch-orthodoxen Kirche getauft. 2002 zog meine Familie nach Deutschland und im Laufe meiner Schulzeit besuchte ich 12 Jahre lang den katholischen Religionsunterricht. Mein Opa ist jüdisch und geht regelmäßig in die Synagoge, ab und zu begleite ich ihn und feiere zusammen mit der Gemeinde die jüdischen Feiertage. In meinen Unterlagen steht aber kurz und knapp: „Konfessionslos“.

Ich wuchs also zwischen zwei Religionen und drei unterschiedlichen Konfessionen (man könnte fast sagen Glaubensrichtungen) auf. Dennoch würde ich mich nicht als einen gläubigen Menschen bezeichnen, vielleicht als einen Agnostiker. In meiner Familie ist eigentlich nur meine Tante religiös, meine Eltern und Großeltern aber, allesamt aufgewachsen in der atheistisch gesinnten Gesellschaft der UdSSR, konnten mit Religion eher wenig anfangen.

Ganz allgemein genießt die Kirche in Russland einen anderen Stellenwert als in Deutschland. So gibt es in der russisch-orthodoxen Kirche z.B. nur die Taufe (bei der, anders als im Evangelischen oder Katholischen, man komplett unter Wasser getaucht und nicht nur damit übergossen wird), jedoch keine Kommunion, keine Konfirmation bzw. Firmung. Einmal getauft, bleibt man sein Leben lang ein Christ – denn austreten kann man nicht. Dafür gibt es in Russland auch keine Kirchensteuern. Jede:r Täufling erhält bei der Taufe ein kleines, meist vergoldetes Kruzifix – das Taufkreuzchen. Dieses besitzt selbst für Menschen, die nach der Taufe nur sehr selten zur Kirche gehen, trotzdem einen sehr hohen Stellenwert – meist verwahrt man daher sein Taufkreuzchen an einem sicheren Ort und trägt ein anderes im Alltag. Auch ich bekam bei der Taufe eines – nahm aber noch nie in meinem Leben an einer orthodoxen Messe teil, obwohl ich natürlich schon sehr oft außerhalb der Messe orthodoxe wie auch katholische und protestantische Gotteshäuser besucht und bestaunt habe. Und trotzdem stehen bei mir zuhause einige Ikonen herum und bei den gelegentlichen Kirchenbesuchen stecke ich lange, bleistiftdünne Wachskerzen in die Sandbecken vor den Ikonenbildern und trinke das Weihwasser, welches man in Russland oft direkt in der Kirche aus einem großen Behälter in Flaschen abfüllt und mit nach Hause nimmt.  

Das Kirchliche bestimmt in Russland den Alltag, und somit ein Stück weit auch die Menschen, jedoch etwas weniger als in Deutschland. So arbeiten die meisten Geschäfte auch am Sonntag und es gibt mit dem Weihnachtsfest nur einen einzigen kirchlichen Feiertag im Jahr. Zum Vergleich sind in den katholischen Gemeinden in Bayern zehn der 13 Feiertage kirchlich. Schließlich ist das wichtigste Fest des Jahres für die meisten Russ:innen immer noch das Neujahrsfest – und nicht das christliche Weihnachten (siehe dazu mein Artikel über das Russische Weihnachtsfest). Und so kommt es gelegentlich, dass in der jetzigen Transformationsphase Russlands von einem atheistischen zu einem religiösen Staat z.B. Paare, die selbst fast nie zur Messe gehen, sich kirchlich trauen und ihre Kinder taufen lassen.

Einfacher als in der Orthodoxie kann man seinen Glauben wohl nur im Islam bekennen – dort genügt es, die Schahada, das nur aus einem Satz bestehende muslimische Glaubensbekenntnis, einmal auszusprechen, um ein Moslem zu werden. Aber auch bei den römisch-katholischen und reformierten Kirchen ist die Erwachsenentaufe keine allzu schwierige Aufgabe. Ganz anders im Judentum. Im Gegensatz zum missionarischen Grundgedanken der beiden größten monotheistischen Weltreligionen, welcher auf Expansion abzielt, versucht man im Judentum mit einem möglichst komplizierten Aufnahmeprozedere, welcher das Erlernen von unzähligen Regeln und Geboten miteinschließt, die Menschen von einer Konversion eher abzuhalten.

Weder mein Opa noch ich kann Hebräisch und wir beide achten nicht darauf, uns koscher zu ernähren, was meinen Opa jedoch nicht daran hindert, ein Jude zu sein und mich nicht davon abhält, ihn ab und zu freitagabends zum Schabbatgebet in die Synagoge zu begleiten. Noch als kleines Kind nahm er mich ab und zu an den jüdischen Feiertagen ins Gotteshaus mit, sodass ich schon von klein auf ein besonderes Verhältnis zum jüdischen Glauben entwickeln konnte. Die Gebetsbücher in der Synagoge sind dreigegliedert und beinhalten den Originaltext auf Hebräisch (den ich nicht lesen kann), die dazugehörige Transkription (die ich zwar mitlesen, aber nicht verstehen kann) und schließlich eine Übersetzung. So ist dafür gesorgt, dass selbst die, die nicht des Hebräischen mächtig sind, am gemeinsamen Gebet partizipieren können.

Eine Besonderheit stellt in der jüdischen Gebetspraxis das gemeinsame Mahl nach dem Gottesdienst dar, welcher im Regelfall etwa 40 Minuten dauert und in einem starken Kontrast zur orthodoxen Messe steht, welche sich über Stunden hinweg ziehen kann und die man komplett im Stehen verbringen muss, denn nach Bänken würde man vergebens suchen. Die Annahme, ich würde der leckeren Mahlzeit halber meinen Opa begleiten, wäre zwar vielleicht nicht grundsätzlich verkehrt, doch bei Weitem zu kurzgefasst. Denn zum einen interessiere ich mich persönlich für den jüdischen Glauben und fühle eine Art innere Verbundenheit mit ihm, zum anderen ist es aber vor allem der gemeinschaftliche Moment, welcher mich motiviert, am Gottesdienst teilzunehmen. Selbst durch meine sporadischen Besuche fühle ich mich mit jedem Mal immer stärker als ein Teil der Gemeinde. Mag sein, dass ich auch für das Orthodoxe oder Katholische bzw. Lutherische ein Interesse entwickeln würde, vorausgesetzt ich hätte jemanden in meiner unmittelbaren Umgebung, der mich auf eine ähnliche Art und Weise wie mein Opa in das Gemeindenleben einführen könnte.

Meine gewisse Verbundenheit mit dem jüdischen Glauben bedeutet aber noch lange nicht, dass ich auch tatsächlich ein praktizierender Jude werden will – allein wenn ich daran denke, wie kompliziert im Jüdischen selbst das Kochen ist, so z.B. die Frage danach, was koscher ist und was nicht oder das Verbot, Fleischliches mit Milchigem zu mischen und die daraus resultierenden zwei Sets an Geschirr, bin ich jedes Mal heilfroh, auf dem Papier immer noch ein Konfessionsloser zu sein. 

Für mich muss der Glaube aber lange nicht an einen Eintrag in einem Registerbuch gekoppelt sein – denn umgekehrt werden sich darin wohl einige Menschen finden, die zwar „römisch-katholisch“ oder „evangelisch“ sind, aber schlussendlich an nichts wirklich glauben. Selbst das Treubleiben einer einzelnen Religionsgemeinschaft gegenüber empfinde ich nicht als eine Pflicht, denn gerade das Gemeinschaftliche ist ja das Verbindende. Ich könnte mir durchaus vorstellen, am Freitag in die Moschee, am Samstag in die Synagoge und am Sonntag in die Kirche zu gehen, vorausgesetzt man ist eingebunden in das Gemeindenleben. Denn letztendlich glauben wir doch alle, Juden, Muslime und Christen, an einen Gott. 

Bilder und Text: Martin Scherbakov