Eure Welt vs. Meine Welt – Wenn der Glaube an die Wirklichkeit verloren geht

Es gibt ein paar Dinge, über die sind wir uns alle einig. Der Himmel ist blau, eins plus eins ergibt zwei, das Getränk, das man sich während des Sommers im Entla’s Keller runterkippt, heißt Bier. Und schmeckt gut. Wobei das zur Debatte steht – Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.

Was nicht zur Debatte steht, ist allerdings die Bezeichnung für dieses Getränk. Das hat jemand nun mal so genannt. Warum? Damit wir uns verständigen können, und dasselbe Ding meinen, wenn wir es vor uns sehen oder anderen davon erzählen.

Einigkeit hat ihren Vorteil: in unserer gemeinsamen Wirklichkeit ist das alkoholische Getränk, das aus Getreide gewonnen wird, nun mal Bier, und ist dazu gut, uns betrunken zu machen. Außerdem sind wir uns einig darüber, dass wir Kindern oder Haustieren kein Bier geben sollten, weil es ihrer Gesundheit schaden würde. Unsere Alkohol-zentrierte Gesellschaft funktioniert gut, solange wir das die Wirkung von Bier und die damit verbundenen Regeln nicht anfechten.
Wenn ich anfange das zu tun, wird die Sache schon komplizierter. Ich könnte zum Beispiel meinen, Bier hätte gar keine berauschende Wirkung, denn ich bin nach drei Bier ja auch nie betrunken. Also ist es praktisch nichts anderes als Wasser, in dem Getreide aufgelöst ist. Und da Wasser auch ungefährlich für Kinder ist, widersetze ich mich der allgemein gültigen Annahme und möchte meinem Kind gerne Bier geben. Das sollte schließlich meine Freiheit sein.

Wenn meine Bier-Weltanschauung jetzt noch einen Schritt weiter geht, sagen wir, ich bin wirklich überzeugt davon, dass ich Recht habe, und möchte andere davon überzeugen. Dann kann ich auf die Straße gehen. Ich kann mit anderen Menschen über meine Bier-Anschauung sprechen und ihnen raten, ihren Kindern Bier zu geben – schließlich ist es die Freiheit der Kinder, auch in jungen Jahren schon in diesen Genuss zu kommen. Und schädlich ist es ja nicht.
Ich kann auch Kinder ganz bewusst dazu überreden, Bier zu trinken. Ich kann ihnen erzählen, es ist nichts anderes als Wasser, ich habe ja schließlich selbst nie einen Unterschied bemerkt.

Nun könnte eine Freundin auf mich zukommen, sie ist besorgt, weil ich ihrem Kind Bier andrehen wollte. Sie möchte nicht, dass ihr Kind das trinkt, sie möchte es schützen und sie sieht das als ihre Verantwortung als Mutter. Sie kann mir erzählen, dass sie Ärzt:innen konsultiert hat, und dass diese sich lange mit den Auswirkungen von Alkohol-Konsum beschäftigt haben, und wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt haben. Diese Ärzt:innen haben jahrelang studiert und wissen, wie der menschliche, speziell der kindliche Körper funktionieren. Sie könnte weiterhin viele andere Mütter und Väter mitgebracht haben, die mich auf solche Informationen hinweisen, sogar Belege liefern.

Und eigentlich wäre jetzt der Moment gekommen, an dem ich nachgeben sollte. Ich könnte einsehen, dass es Menschen gibt, die sich besser mit diesem Thema auskennen als ich. Ich habe meine Anschauung schließlich eher spontan entwickelt, und ich habe auch nicht tausende Menschen untersucht, wie es in den Berichten steht. Ich habe nur mich als Nachweis für meine Anschauung, meine eigene kleine Realität.
Nun wäre der Augenblick, an dem ich sagen sollte: „Entschuldigung, ihr scheint Recht zu haben. Ich nehme das zwar anders wahr, aber um eure Kinder zu schützen, gebe ich ihnen kein Bier mehr und werde sie auch nicht dazu überreden.“
Ich könnte mir immer noch denken: „so ein Mist aber auch, warum macht Bier mich denn nicht betrunken?“ und gleichzeitig anerkennen, dass die Effekte von Alkohol bei anderen eben doch wirken, für manche Menschen sogar besonders schädlich sind.

Aber eigentlich kommt es nicht immer vor, dass ich in diesem Moment nachgebe. Ich bleibe bei meiner Anschauung. Ich schenke allen Personen um mich herum, die mir widersprechen, keinen Glauben, weil ich ihre Realität nicht selbst erlebe.

Mir kann Bier schmecken, oder auch nicht. Das ist Geschmackssache und völlig in Ordnung, nicht dieselbe Meinung zu teilen.
Aber wenn ich andere Menschen in Gefahr bringe, indem ich meine eigene Erfahrung der Allgemeingültigkeit überstelle, wenn ich anderen Menschen nicht mehr glaube und ihnen vertraue, weil ich nicht alles selbst am besten wissen kann, hört der Spaß an Bier auf.

Und wenn ich mich während einer Pandemie weigere, mich an allgemeingültige Regeln zu halten, die dazu beitragen, mich und andere zu schützen, auch in Phasen, in denen Inzidenzen wieder niedrig bleiben, hört der Spaß genauso auf. Ich kann bewiesene Wirksamkeiten von Impfungen leugnen, Aussagen von Wissenschaftler:innen leugnen, die wieder und wieder darauf hinweisen, wie wichtig es ist, sich und andere mit einer Immunität zu schützen. Ich kann es als meine Freiheit erachten, in ein Fußballstadion zu gehen und nach Spanien in den Urlaub, mich nicht impfen zu lassen oder keine Maske zu tragen. Ich kann damit verblendet genug zu sein, das Risiko nicht anzuerkennen, dass ich mit einer möglichen Infektion auch ein Risiko für Fremde und meine Liebsten darstelle, die nicht Teil meiner eigenen kleinen Realität sind, in der wir alle sicher sind vor Viren, die ich nicht sehen kann. Natürlich kann ich das machen, aber damit tue ich nichts anderes, als die Realität zu verweigern und mir meine Welt auszudenken, wie sie mir gefällt, während ich fahrlässig mit dem Leben und dem Wohlergehen anderer umgehe.

Um mit anderen zusammenzuleben, muss ich deren Realität genauso anerkennen wie meine. Wenn ich das nicht tue, könnte ich auch genauso gut meinen Kindern Bier zu trinken geben, weil ich nicht anerkennen kann, dass es ihnen schaden könnte.

Wenn ich mich nur nach meinen eigenen Spielregeln verhalte, dann bin ich kein:e originelle:r (Quer-)Denker:in, kein:e kritische:r Hinterfrager:in. Dann bin ich Verleugner:in der Realität und entscheide mich ganz bewusst dazu, anderen Menschen zu schaden.

Text & Meme von Julia Graetz

Beitragsbild: pixabay (Michael Hofmann)