“Die Tonight, Live Forever oder Das Prinzip Nosferatu”: ohne einen einzigen Vampir, dafür mit viel Witz wird die Horror-Show der Selbstausbeutung auf der Bühne der Kammerspiele offengelegt.
Das Theater hat ja in den Köpfen vieler immer noch so das Image, ein bisschen angestaubt zu sein. Dem Klischee nach geht man entweder hin, weil man ein leicht weirdes, überdramatisches Theatre Kid ist, oder weil man die Clout haben möchte, um kultiviert zu erscheinen. („Was, du gehst ins Theater?! Woooow!“)
Angestaubt ist bei diesem Abend allerdings höchstens das Bühnenbild: Wir befinden uns, so wie es aussieht, in einem heruntergekommenen Kinosaal. Die letzten Filme, die hier gezeigt wurden, waren wahrscheinlich Stummfilme, die noch live mit Klaviermusik begleitet worden sind. Von den Wänden bröckelt der Putz, die Samtvorhänge sind mottenzerfressen und die Armleuchter hängen schief. Eine Schicht Dreck bedeckt den Boden, die Sitzreihen sind auseinandergenommen, überall türmen sich leere Bierdosen, Flaschen und Fast-Food-Verpackungen.
Man möchte meinen, dass hier bald das Fest der Scream Queens und Blutsauger stattfindet. Ich zumindest hatte mich darauf eingestellt, mich für die kommenden 90 Minuten hinter meinem Programmheft zu verstecken, weil ich den Horror kaum aushalte. Und auf eine gewisse Weise ist der Horror dann auch wahr geworden; er besteht allerdings nicht aus Vampiren, die hilflosen Damen die Zähne in den Schwanenhals bohren. Geschrien wird zwar, aber nur einmal…leider? Nein, denn dafür wird umso mehr gelacht, weil der Nagel der beschämenden Wahrheit so oft auf den Kopf getroffen wird.
Da ist einmal die junge Frau, die sich mit positiven Affirmations und neuen Projekten zuballert, um sich selbst zu beweisen, dass sie es draufhat, dass sie es kann, dass sie alles erreichen kann und das auch wird (Anna Klimovitskaya). Dann haben wir den jungen homosexuellen Makler, der spießigen cis-het Anzugträger*innen Immobilien verkauft, und dann über eine App die hinter “propriety” versteckte und nicht ganz ungefährliche Seite der Stadt entdeckt, in der er arbeitet (Cem Lukas Yeginer). Und dann ist da noch der spitzgesichtige Nachtwandler, von dem nicht ganz klar ist, wo er gerade herkommt und wohin er geht. Wir wissen zuerst nur, dass wir eigentlich schreien wollen „Nein, steig doch nicht auf dieses verdammte Motorrad, du Idiot!“ (Finn Nolting). Immer wieder gehen neue Abgründe auf, und es macht unheimlich (haha, witzig, wegen Nosferatu und so) viel Spaß, den dreien zuzuschauen. So wachsen ihre fragmentarischen Geschichten zu einem Bild von einer beständigen Bedrohung, die allen irgendwie bekannt ist.
Denn der eigentliche Grusel ist das “Prinzip Nosferatu”, und das kennen auch in meiner studentischen Peergroup sehr viele sehr gut. Es gilt für benachteiligte und marginalisierte Gruppen noch viel mehr. Und auch wer sich gerne davon loslösen will, hat es schwer, sich wirklich von dem zu befreien, was die Leistungsgesellschaft von uns verlangt: sie schafft es, dass wir uns selbst optimieren und uns freiwillig selbst ausbeuten, um ihr zu beweisen, dass wir was wert sind – so lange, bis wir krank werden oder sterben, am besten noch über unsere Arbeit gebeugt. Wir brauchen gar keine Vampire mehr, wir saugen uns einfach selbst jegliche Energie aus. Es finden sich deswegen überall Hinweise auf den Tod, angefangen beim Bühnenbild als potenzielles Symbol für den Zerfall unserer Körper und Psychen bis hin zu der Inschrift, die einen Eingang in die Pariser Katakomben ziert: „Arrête! C’est ici l’Empire de la Mort!“ – „Stopp! Dies ist das Reich des Todes!“
Mein Tipp: einfach mal hingehen, aufmerksam zuhören und zuschauen, Spaß haben und mit anderen das Gesehene angeregt diskutieren. Der Abend hat eine irre Detailfeinheit, und die Zeit vergeht mit den unterschiedlichen Energien der Darsteller*innen wie im Fluge. (Gesungen wird übrigens auch!)
Und noch ein Tipp: Für Personen unter 27 Jahren gibt es ab dem Tag vor einer Vorstellung Tickets ab 11 Euro für jede Sitzplatzkategorie. Für Abende wie diesen dürfen Netflix & Co. gerne mal hinten anstehen – das Theater ist sowieso die bessere Watchparty. Also los – ihr wisst jetzt, was zu tun ist!
„Die Tonight, Live Forever oder Das Prinzip Nosferatu“ von Sivan Ben Yishai
am Staatstheater Nürnberg
Regie: Michael Königstein
Bühne & Kostüm: Victoria Philine Giehl
Dramaturgie: Klaus Missbach
Besetzung: Anna Klimovitskaya, Yascha Finn Nolting, Cem Lukas Yeginer
Termine & Tickets findet ihr hier
von Svenja Plannerer
Beitragsbild & Fotos im Text: Konrad Fersterer