Mit diesem Abend wird mal wieder klar: Deutschland hat nichts, aber auch gar nichts aufgearbeitet. Diese Anklage bewegt sich zwischen Beklemmung und fieberhafter Action.

Jedes Wort und jedes Bild sitzt. Dass wirklich dreieinhalb Stunden vergangen sind, weiß ich am Ende nur, weil die Uhr es mir verrät. Eine solche einvernehmende Klarheit, wie sie mit Spiel, Kostüm und Bühnenbild geschaffen wird, kann man sich für die Realität unseres Umgangs mit rechter Gewalt nur wünschen.

Drei Dinge sollte man allerdings mitbringen: Zeit, einen Gefallen an Sprache und ihren Verdrehungen und natürlich etwas Vorwissen zu den NSU-Prozessen. Für mich sind es außerdem viele erste Male: Ich sehe das erste Mal Jelinek auf der Bühne, ich höre das erste Mal überhaupt von dem Massaker an beinahe 200 jüdischen Zwangsarbeiter*innen auf Schloss Rechnitz, und ich höre zum ersten Mal, dass Beate Zschäpe anscheinend wohl zwei Katzen hatte.

In drei Teile gegliedert spürt der Abend im ersten Abschnitt „Wolken.Heim“ zuerst dem nach, was „Deutsch sein“ überhaupt sein könnte. Raus kommt dabei nur: „wir“ sind und bleiben hier – damit gemeint ist ein Dach mit rauchendem Schornstein, auf dem sich vermeintliche Poster-Deutsche tummeln –, die „anderen“ müssen raus (wortwörtlich).

Aydın Aydın, Maximilian Pulst (hinten), Sascha Tuxhorn, Tjark Bernau und Lisa Mies (vorne) im zweiten Teil des Abends, “Rechnitz (Der Würgeengel)” (Foto: Konrad Fersterer).

Direkt danach wird die Handlung auf Schloss Rechnitz verlegt, wo kurz vor Kriegsende 1945 bei einer Feier 180 Jüd*innen von Nazis ermordet wurden, als wäre das ein besonders spaßiger Party-Gag. Bedienstete hasten vor dem Vorhang hin und her und halten immer wieder inne, um in soghaft-intensiven Monologen zu berichten, was auf diesem Fest vor sich geht. Einer von ihnen ist zum Beispiel hin- und hergerissen zwischen Begeisterung für Gewehre und (fadenscheinigem) Mitleid für diejenigen, die von ihnen getroffen werden; ein anderer trägt einen Haufen blutbefleckter Schaufeln mit sich und berichtet von den Toten, die er begraben musste. Das Massengrab, übrigens, ist wie vom Erdboden verschluckt. Bis heute ist es nicht gefunden und die Bevölkerung des Ortes Rechnitz, von der in einer Videosequenz O-Töne zu hören sind, die weiß natürlich von nichts. „Da war mal irgendwas“, das ist noch das höchste der Gefühle, sonst ist die Erinnerung mehr als lückenhaft. Und die Täter*innen? Die wandern ganz einfach aus und können unbehelligt cocktailschlürfend ihre Leben zu Ende bringen, während die Leichen im unschuldsweißen RUHE-Keller langsam weggeschwiegen werden.

Julia Bartolome im zweiten Teil des Abends, “Rechnitz (Der Würgeengel)” (Foto: Konrad Fersterer).

Lückenhaft ist dann auch die Aufklärung, die die vom NSU begangenen Verbrechen erfahren. In „Das schweigende Mädchen“ geht es um die wenig enthusiastischen Bemühungen der Justiz, diese Morde aufzudecken – und um die schweigende Beate Zschäpe. Deren ausgebrannte Wohnung bietet eher spärliche Beweisstücke, dafür eine exzellente Kulisse. Das Ensemble dreht voll auf und das Publikum wird förmlich überwältigt: die Fetzen fliegen (wieder wortwörtlich), es wird gespuckt, gekämpft, geschrien, geoberpfälzert und absurd lustig gesungen – Jan Philipp Gloger wäre schließlich nicht Jan Philipp Gloger, wenn es nicht auch was zu lachen gäbe.

Aydın Aydın, Sascha Tuxhorn, Amadeus Köhli und Tjark Bernau im dritten Teil des Abends, “Das schweigende Mädchen” (Foto: Konrad Fersterer).

Dennoch gibt es immer wieder Momente, in denen es so still wird im Saal, dass sich niemand traut auch nur zu laut zu atmen. Husten? Wäre in diesen Augenblicken ein Kapitalverbrechen. Was kann man in so einem Moment der Überwältigung auch anderes tun als zu schweigen? Genau das aber ist Jelineks Hauptanklagepunkt: Das wahlweise Totschweigen oder Kleinreden von menschenverachtender Grausamkeit und unsere Mutwilligkeit, Fakten dabei zuzusehen, wie sie unter den Teppich gekehrt werden.

Der Abend endet mit einem Monolog des Engels der Zukunft, der düster prophezeit, dass sich so schnell wohl nichts an der Tatsache ändern wird, dass Täter*innen in Deutschland mit lachhaften Strafen davonkommen und rechte Gewalt verharmlost wird. Seine Forderung, wir müssten doch darüber reden wird prompt im Keim erstickt – denn wenn Deutschland etwas gut kann, dann ist es so zu tun, als sei nichts gewesen.

„Wolken.Heim/Rechnitz (Der Würgeengel)/Das schweigende Mädchen“ von Elfride Jelinek

am Staatstheater Nürnberg, im Rahmen des Projektes “Kein Schlussstrich!”

Regie: Jan Philipp Gloger

Bühne: Marie Roth

Kostüme: Franziska Bornkamm, Anna Lechner

Dramaturgie: Brigitte Ostermann

Musik: Kostia Rapoport

Video: Martin Fürbringer

Licht: Tobias Krauß

Besetzung: Aydın Aydın, Julia Bartolome, Tjark Bernau, Annette Büschelberger, Amadeus Köhli, Lisa Mies, Maximilian Pulst, Sascha Tuxhorn

Termine und Tickets findet ihr hier.

Text: Svenja Plannerer

Beitragsbilder & Bilder im Text: Konrad Fersterer