Wo fängt Kunst an und wo wird sie enden? Mit dieser Frage beschäftigt sich unsere Autorin Adriana im zweiten Teil ihrer Reihe zum Thema Zukunftskunst. Im ersten Teil ging es um KI als Kunstschaffende, diesmal geht es um das künstlerische und ethisch nicht ganz unproblematische Potenzial der (menschlichen) Biologie.

Lest den ersten Teil von Adrianas Reihe hier: Zukunftskunst: KI als Kunstschaffende der Zukunft?

Kunst liegt uns allen in den Genen. Also buchstäblich. Einige zeitgenössische Künstler:innen lassen mehr und mehr Leinwand und Farbe hinter sich und wählen stattdessen den menschlichen Körper mitsamt seinen Zellen, Organen und DNA zum Schauplatz und Instrument ihrer Kunst. Maja Smrekar ist eine von ihnen. Sie scheut sich nicht davor, den Weg von Moral und Ethik zu verlassen und uns mit Themen zu konfrontieren, die normalerweise niemand laut ausspricht. Im Rahmen ihres 4-teiligen Kunstexperiments „K-9_topology“ bricht die slowenische Intermedia-Künstlerin sämtliche gesellschaftliche Tabus. Sie will im Namen der Kunst eine neue Spezies erschaffen. In diesem Video erklärt sie, warum sie einen Welpen an ihrer eigenen Brust säugt und sich sogar durch In-Vitro-Fertilisation eine Fett Zelle eines ihrer Hunde in ihre eigene Eizelle einpflanzen ließ. Die „befruchtete“ Eizelle wurde von Smrekar und ihrem Team aus Wissenschaftler:innen nach nur drei Tagen eingefroren. In diesem Aggregatszustand verharrt sie bis heute als molekulare Skulptur, die in der Zeit festgehalten wurde. Es ist also in Wirklichkeit gar keine neue Hund-Mensch-Spezies entstanden. Trotzdem steht sie metaphorisch für das Potenzial, in der Zukunft eine zu werden.

Maja Smrekar, Hybrid Family, 2016.

Ist das zu radikal? Zu unethisch? Wie weit darf Kunst gehen? Durch die Linse der Kunst können gesellschaftliche und technologische Umschwünge in der Gesellschaft vorhergesehen werden.  Aber worum es bei all dem geht, bleibt immer dasselbe. Die alten Fragen die schon Gauguin stellte: Wo kommen wir her? Wer sind wir? Wo gehen wir hin? Aber anstelle von Ton und Farbe benutzt die Künstlerin Material und Werkzeuge aus der Biotechnologie, weil sie verdeutlichen will, dass diese Technologien längst Teil unserer Realität sind. Für Smrekar liegt das Geheimnis in der parallelen Evolution von Mensch und Hund, daher versucht sie den Menschen durch die Beziehung zu seinem treusten Freund zu ergründen. Im Rahmen dieser Performances prüft sie die Fähigkeit der Gesellschaft, sich mit dem „Anderen“ zu konfrontieren. Mit dem kulturellen, biologischen und technologischen Anderen. Und letztendlich untersucht sie so, wo der Mensch in der Zukunft stehen wird. Wir sind nicht der Mittelpunkt des Universums, das ist uns schon lange bewusst, aber warum benehmen wir uns dann immer noch so? In Majas Vision sterben wir aus, da wir nicht in der Lage sind, uns mit anderen Augen zu sehen. Auf der Mission, unseren eigenen Ursprung als menschliche Spezies zu durchdringen, sind Eizellen aber erst der Anfang.

Die britische Künstlerin Charlotte Jarvis geht noch einen Schritt weiter: Sie versuchte im Rahmen ihres Projektes „In Posse“ Spermien aus ihren weiblichen Stammzellen herzustellen, weibliches Sperma also. Das wäre sogar im aufgeklärten 21. Jahrhundert noch skandalös, aber vielleicht sogar irgendwann machbar.

An der holländischen Universität Leiden arbeitet die Künstlerin gemeinsam mit dem Kersnikova Institut in Ljubljana und Professor Susana Chuva de Sousa Lopes daran, diese Idee als erste in die Tat umzusetzen.

Mit Hilfe von CRISPR-Cas9-Technologie, auch bekannt als Genschere, versuchen sie weibliche Spermatozoen aus Jarvis’ Zellen herzustellen.

Charlotte und Susana verwenden humaninduzierte pluripotante Stammzellen (HiPSCs), die aus Charlottes Haut gewonnen werden, um Spermatozoen zu züchten. Diese Zellen haben XX-Chromosomen – den „weiblichen“ genetischen Marker. Der erste Schritt besteht darin, zu versuchen, eines dieser X-Chromosomen durch beschleunigte Mutation, Scanning und Selektion zu löschen.

In der zweiten Phase wird CRISPR verwendet, um synthetische Gene hinzuzufügen, die auf dem „männlichen“ Y-Chromosom zu finden sind. Sie werden dann versuchen, eine gesunde Kolonie dieser geschlechtsmutierten HiPSCs zu züchten und sie in die Spermien produzierenden Zellen zu differenzieren, die in männlichen Hoden vorkommen.

Charlotte Jarvis, In Posse, Female Semen Version 1, made in the Lab at Kapelica Gallery/Kersnikova Institute (Foto: Miha Godec).

Charlotte sieht es als feministische Geste. Ein Angriff auf das Patriarchat. Im Laufe der Geschichte wurde Sperma als magische Substanz verehrt – als Totem buchstäblicher und symbolischer männlicher Potenz.

Junge oder Mädchen? Ist das nicht das erste, was man über ein Baby wissen will? Historisch wurde dieser wahrgenommenen Dichotomie schon immer große Bedeutung beigemessen. Sie ist die Grundlage traditioneller Vorstellungen von Familie, Politik, Kultur und Medizin und untermauert die patriarchalen und normativen Gesellschaften, die die Menschheitsgeschichte größtenteils dominiert haben. „In Posse“ zielt darauf ab, diese kulturelle Erzählung neu zu schreiben und Kunst sowie Wissenschaft zu nutzen, um die Geschlechterhierarchie zu durchbrechen.

Die Basis für die Samenflüssigkeit wird aus dem Blut mehrerer Frauen gewonnen. Wie bei einem Hexenzirkel symbolisiert dieser kollektive Akt die Schwesternschaft und die gemeinsame Ablehnung des Patriarchats. Das gesammelte Blutplasma wird dann mit den anderen organischen Verbindungen, aus denen die Samenflüssigkeit besteht einschließlich Proteinen, Fructose, Milchsäure und Zellulose, inkorporiert.

Der letzte Teil des Projekts ist das Festival der Thesmophoria. Hier rufen Charlotte und die teilnehmenden Frauen das weibliche Sperma ins Leben. Über das ursprüngliche, aus dem antiken Griechenland stammende, Fest ist wenig bekannt, da Männern die Teilnahme untersagt war und es daher weitgehend undokumentiert blieb. Charlotte verwendet ihren eigenen weiblichen Samen als Ausgangspunkt, um die Thesmophoria mit mehreren Gruppen von Frauen an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt neu zu erfinden. Die Feste bauen auf den spärlich vorhandenen Details und Gerüchten über die Thesmophoria auf – ein Festmahl, das Begräbnis eines Schweins, Schlangen- und Phallusopfer usw.

„In Posse“ ist ein lateinischer Begriff, der wörtlich übersetzt “bevor wir geboren werden” bedeutet. Es bezieht sich auf etwas, das möglich ist, das Potenzial hat, aber noch ins Leben gerufen werden muss.

Doch warum sollte Kunst dürfen was Wissenschaft nicht darf? Immerhin spielt sie hier mit unserem Leben. Charlottes Vision lautet: Sich als Frau irgendwann ganz allein fortpflanzen können in einer Welt, die ohne das „stärkere Geschlecht“ auskommt. Das ist wirklich ferne Zukunft, höchstwahrscheinlich illegal und für viele Menschen wohl auch zutiefst ethisch verwerflich, aber nicht unmöglich. Der Punkt ist, solche Projekte zu verwirklichen und diese Fragen aufzuwerfen, bevor sie Realität werden. So können wir eine gesellschaftliche Debatte darüber führen und versuchen, uns als Menschen zu definieren, bevor es zu spät ist. Ein Leben in einem sterilen Labor entstehen zu lassen, daran ist wohl nichts „menschlich“. Wollen wir wirklich so weit gehen, an Gottes Stelle treten und eine eigene zweite Schöpfungsgeschichte schreiben? Die Vorstellung vom künstlich erschaffenen Menschen ist schon sehr alt. Bereits Ovid erzählt in seinen Metamorphosen von einem genialen Erfinder namens Dädalus, dem es gelang, lebendige Statuen zu erschaffen. Im frühen Mittelalter stößt man auf Geschichten aus der jüdischen Literatur und Mystik, in denen die Rede von einem Golem ist, ein Geschöpf, das aus Lehm von Menschenhand geformt wurde. Im Spätmittelalter sind es die Alchemisten, die von der Idee besessen sind, ein kleines Menschlein, das sie Homunculus nannten, künstlich herzustellen.

Die Geschichte der Technik beginnt immer zunächst als Magie. Wissenschaft und Zauberei sind sich ähnlicher als man vielleicht im ersten Moment glauben mag und stehen im Kontrast zu Religion, welche immer einen Umweg über eine göttliche Instanz geht. Im Zeitalter der Technologie vollbringt der Mensch selbst die Wunder, die früher nur einem Gott vorbehalten waren und er erfüllt sich nach und nach seine sehnlichsten Träume. Wir können fliegen, mit einer Person am anderen Ende der Welt kommunizieren, auf dem Mond spazieren und vielleicht ist es nun auch an der Zeit, dass der Wunsch nach gottgleicher Schöpfungskraft in Erfüllung geht. 

Nicht einmal den sogenannten Code des Lebens belassen wir bei seiner ursprünglichen Form und Funktion, wir legen selbst Hand an. Charlotte Jarvis will im Rahmen ihres Projektes „Music of the Spheres“ herausfinden welche Potenziale die Biotechnologie für die Zukunft noch bietet. Dafür hat sie mit dem Wissenschaftler Nick Goldman zusammengearbeitet. Er hat eine Methode entwickelt, mit der man Daten auf DNA speichern kann. Das heißt man kann jede digitale Datei, also alles was in Nullen und Einsen codiert ist, in DNA-Moleküle übersetzen. Auf diese Weise hat Jarvis als erste ein eigens dafür komponiertes Musikstück auf DNA gespeichert. Die DNA-Moleküle wurden anschließend in Seifenlauge aufgelöst, um bei der Ausstellung des Projektes Seifenblasen daraus herzustellen. In dieser Form erfüllt die in DNA codierte Komposition die Luft, zerplatzt auf der Haut der Besucher:innen und badet sie buchstäblich in Musik.

Charlotte Jarvis, Music of the Spheres, 2017.

Wir spielen mit dem Code von Algorithmen und jetzt auch noch mit dem Code, aus dem wir selbst gemacht sind: Unsere DNA. Vielleicht geht das wirklich zu weit, aber unsere Vorstellungen von Moral und Ethik sind das, was uns seit Jahrhunderten davon abhält, echten Fortschritt zu machen und über den Tellerrand hinauszuschauen. 

Wissen ist Macht. In der Zukunft könnten Daten unsere neue Währung sein und diese könnten bereits in jedem einzelnen von uns stecken. DNA, die Währung der Zukunft, wie konnten wir das all die Jahre übersehen? Sie ist die Sprache des Lebens. Der Code, der allem zugrunde liegt. Der Rhythmus, der alles verbindet was lebt.

DNA eignet sich deswegen so gut als Speichermedium, weil extrem viele Daten auf extrem kleinen Raum passen und sie eine längere Zeit überdauern kann als jede Computerfestplatte. Alle Daten der gesamten Menschheit würden auf DNA gespeichert zum Beispiel in einen kleinen Lieferwagen passen und hunderttausend Jahre oder sogar länger bestehen. Ein sehr romantischer Gedanke, denn die gespeicherten Daten hätten sogar das Potenzial die Menschheit selbst zu überdauern.

In einer öffentlichen Performance erschafft Charlotte Jarvis mithilfe der Stammzelltechnologie das, was sie einen symbolischen Menschen nennt. Bei dem Projekt „Ergo Sum“ (lat. “also bin ich”) hat die Künstlerin Teile ihres Körpers für die Stammzellforschung gespendet. Die gespendeten Exemplare wurden medizinisch in induzierte pluripotente Stammzellen umgewandelt und von dort in ganz unterschiedliche Substanzen transformiert. Ein zweites Selbst ist entstanden, ein Selbstporträt aus einer Collage synthetisierter Körperteile.

Herzzellen, Gehirnzellen und Blutgefäße. Symbolisch für ein schlagendes Herz, ein aktives Gehirn und fließendes Blut. Die Zellen wurden in einem Inkubator im Ausstellungsraum am Leben erhalten, so als ob sie es sind, die dort eine Performance machen würden anstelle der echten Charlotte.

Charlotte Jarvis, Herzzellen gezüchtet als Teil des Projektes “Ergo Sum”.

Also was ist es was uns ausmacht? Körper oder Geist? Wäre eine Kopie von uns noch derselbe Mensch? Die alten Fragen der Menschheit werden durch die neuen Technologien noch dringlicher.

In der Zukunft wird personalisierte Medizin groß im Kommen sein, daher erscheint es sehr wahrscheinlich, dass wir in der Lage sein werden, Teile von uns außerhalb unseres Körpers zu züchten. Der Körper ist damit nicht länger ein einzelner abgeschlossener Organismus. Er ist ein magischer Ort des Übergangs. Des Hybriden. Wo unser Körper anfängt und wo er endet wird völlig aufgebrochen.

Die technologische Entwicklung zieht immer mehr Künstler:innen an. Sie denken größer, spekulativer; sie beziehen den Menschen mit ein in Technologie und Forschung. Sind diese neuen Kollaborationen die Hoffnung für unsere Zukunft? Vielleicht können wir die großen Herausforderungen unseres Jahrhunderts nur meistern, wenn wir unsere Angst besiegen und das Wissen von Kunst und Forschung verbinden.

von Adriana Correa

Beitragsbild: Salvador Dalí, “The Structure of DNA”