Vier Menschen in einem Gebäude, die sich zumindest geographisch nah sind, sich nach menschlicher Nähe sehnen, und sie doch nicht finden, weil sie zu viel trennt, nicht nur die Wände ihrer Klokabinen – Ernst und Witz sitzen genauso nah beieinander wie die Protagonist*innen am Ende des Stücks.

Nachdem die im März 2020 geplante Uraufführung nicht stattfinden konnte, weil die Theater die Türen schließen mussten, war es nun am gestrigen Freitag endlich so weit: „Halt mich auf“ von Annika Henrich kam auf die Bühne in der 3. Etage des Staatstheaters, mit neuer Regie, neuem Bühnenbild und neuer Besetzung. Das Ergebnis: in und um einen Guckkasten aus Wellblech wollen vier Menschen der Tretmühle des Funktionierens ein unerreichbares Mehr abgewinnen.

Die junge Schauspielerin (Süheyla Ünlü) lebt in einem Tiny House, das mal eine Pommesbude war (Foto: Konrad Fersterer).

Dieses Mehr ist durchweg präsent durch einen großen Vorhang, der die Rückwand dieses Guckkastens bildet und auf dem das Bild eines sanften blauen Meeres Wellen schlägt. Die Farben sind friedlich, pastellig und paradiesisch, harsch unterbrochen durch graues Metall und immer wieder eingeblendete Projektionen einer zubetonierten Stadt, bevölkert von übergroßen Tauben, die das Geschehen kommentieren.

Die Tauben, oder auch “Stammgäste” kommentieren und diskutieren unter anderem Wohnsituationen und die Idee des Aussteigens (Foto: Konrad Fersterer).

Die Tauben entdecken, dass das Gebäude, auf dem sie sitzen, ins Wanken gerät, genauso, wie die Menschen im Gebäude ins Wanken geraten sind – oder vielleicht nie damit aufgehört haben. Die junge Schauspielerin wünscht sich nichts sehnlicher, als mit ihrem selbstgeschriebenen Monolog endlich Erfolg zu haben, anstatt von Job zu Job tingeln zu müssen (Süheyla Ünlü). Die Biotechnologin versteckt sich vor ihrer sterbenden, wenig herzlichen Mutter und ihrer Arbeit, in der sie ohnehin nie etwas tun muss, außer in fein gebügelter Bluse am Computer sitzen (Stephanie Leue). Und der Bauunternehmer, dem der Gebäudekomplex gehört, schneit immer wieder mal rein, um großkotzig zu tun und wenig erfolgreich zu verbergen, dass er doch eigentlich auch nur dazugehören wollte, schon damals auf dem Bolzplatz (Felix Mühlen). Sein Sohn hingegen ist nicht davon überzeugt, dass dieser Welt noch etwas Gutes abzugewinnen ist und lässt seiner explosiven Wut freien Lauf (Justus Pfankuch).

Die Biotechnologin (Stephanie Leue) hält Liebe für einen unerwünschten Eindringling und ist lieber allein (Foto: Konrad Fersterer).

Sie sind sich so nah, und sehnen sich so sehr nach Nähe, nach Gemeinsamkeit, nach dem großen Kumbaya, aber letztlich bleibt dieses Mehr doch nur ein zweidimensionales Bild, bleibt etwas Unantastbares, zu dem sie nicht zurückfinden können. Sie gehören unterschiedlichen Welten an, und obwohl sich nicht fremd sein wollen, ist die Situation doch klar: da ist etwas, das sie unwiederbringlich trennt. Das kapitalistische Machtgefälle, das ewige Hamsterrad von Aufstehen-Arbeiten-Schlafengehen, die Wände ihrer Trockenbau-Fertigwohnungen – am Ende geht doch nur jede*r wieder nach Hause und träumt weiter vom besseren Leben, dem Aussteigen, dem Alles-Hinter-Sich-Lassen, das am Ende in Rauch aufgeht.

Hier wird von der Utopie des ineinander Aufgehens geträumt (v.l.: Süheyla Ünlü, Felix Mühlen, Stephanie Leue) (Foto: Konrad Fersterer).

So düster die Thematik, so zum Schreien komisch der Abend. Leichtfüßige Komik in Text und Spiel machen die grau gefärbten Gedanken verdaulicher, ohne deren Gewicht zu ignorieren, und so werden schamlos (und im wahrsten Sinne des Wortes) die Hosen runtergelassen. Schließlich kommen die einzelnen Erzählstränge am einzigen Ort zusammen, an dem die eigene Menschlichkeit hinter Fassaden verbergen zu wollen zwecklos ist: auf dem Klo.

Fazit: Spannend, kurzweilig, witzig und zutiefst sehnsuchtsvoll!

„Halt mich auf“ von Annika Henrich

am Staatstheater Nürnberg

Regie: Anna Stiepani

Bühne & Kostüme: Thurid Peine

Dramaturgie: Klaus Missbach

Licht & Drohnenaufnahmen: Wolfgang Köper

Besetzung: Süheyla Ünlü, Stephanie Leue, Felix Mühlen, Justus Pfankuch

Termine und Tickets findet ihr hier.

Text: Svenja Plannerer

Beitragsbild & Bilder im Text: Konrad Fersterer