Erst ging es um Künstliche Intelligenzen als Kunstschaffende, dann um Kunst aus dem Labor, diesmal geht es um die Verwischung der Grenzen der Wahrnehmung zwischen Virtualität und Realität. Welches Potenzial darin vergraben liegt, zeigt unsere Autorin Adriana im dritten und finalen Teil ihrer Reihe zu Zukunftskunst.

Lest den ersten Teil von Adrianas Reihe hier: Zukunftskunst: KI als Kunstschaffende der Zukunft?

Den zweiten Teil gibt es hier: Zukunftskunst: Kunst aus dem Labor

„What is real? How do you define ‚real‘? If you’re talking about what you can feel, what you can smell, what you can taste and see,then ‚real‘ is simply electrical signals interpreted by your brain.“

So beschreibt es Morpheus in der weltberühmten Matrix-Trilogie. Und er hat nicht ganz unrecht! Denn woher sollen wir wissen, ob das, was wir erleben, tatsächlich real ist? Was, wenn wir alle in einer virtuellen Realität leben, ohne es zu merken? Fakt ist, dass das menschliche Gehirn nicht in der Lage ist, reale Erfahrungen von virtuellen Erlebnissen zu unterschieden. Es ist wahr, selbst wenn wir nur ein Buch lesen, werden im Gehirn dieselben neuronalen Schaltkreise aktiviert, die auch bei realem Erleben tätig werden. Die Wissenschaft ist sich jedoch uneinig, was die sogenannte Matrix-Theorie angeht. Einige Theoretiker:innen schätzen die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir in einer Simulation leben, die von Aliens gesteuert wird auf ca. 50 % und Tesla-Chef Elon Musk hält dieses Szenario sogar für nahezu sicher. Diese Tatsache bleibt auch von Künstler:innen nicht unbemerkt, denn die Virtual Reality eröffnet ein weites Feld an Möglichkeiten und lockt mit ihren ultraechten Erlebnissen nicht nur innerhalb der Videospielbranche. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg verbindet schon seit einiger Zeit den Begriff Metaverse mit einer Vision davon, wie sich das Internet weiterentwickeln und deutlich immersiver werden wird.

Marina Abramović , Rising, 2018.

Für Daniel Birnbaum liegt in der VR die Zukunft. Er ist Direktor von Acute Art. Diese Produktionsfirma mit Sitz in London zählt zu den größten Playern in der noch jungen VR und AR Kunst. Die Softwareingenieur:innen von Acute Art haben schon für mehrere namhafte Künstler:innen virtuelle Arbeiten umgesetzt. Auch für die Performancekünstlerin Marina Abramović. Sie ist längst eine Meisterin der Grenzüberschreitung, doch jetzt überschreitet sie sogar die Grenzen von Zeit und Raum, sodass sie weltweit mit Menschen in Kontakt treten kann. Mit dem interaktiven VR-Game Rising (2018) thematisiert die Künstlerin die Folgen des Klimawandels, indem sie die Zuschauer:innen vor eine Wahl zwischen Leben und Tod stellt. Mit einem VR-Headset betreten die Betrachter:innen einen intimen virtuellen Raum, in dem sie der Künstlerin von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Sie winkt aus einem Glastank, während dieser sich langsam von der Taille bis zum Hals mit Wasser füllt. Symbolisch für den Anstieg des Meeresspiegels.

Den Player:innen werden dramatische Szenen von schmelzenden Polkappen und zerstörten Städten vorgeführt. Abramović fordert die Zuschauer:innen dazu auf, ihre Auswirkungen auf die Welt um sie herum zu überdenken und zu entscheiden, ob sie die Künstlerin vor dem Ertrinken retten und somit den Klimawandel stoppen möchten oder nicht. Wenn der:die Player:in sich dazu verpflichtet die Umwelt zu retten, sinkt auch das Wasser in Abramovićs Tank, wenn nicht, stirbt die Künstlerin und der Planet.

Durch das immersive Spiel hofft sie, unsere Fähigkeit dafür zu erhöhen, sich in die heutigen und zukünftigen Opfer des Klimawandels hineinzuversetzen. Und welches Medium wäre besser dazu geeignet als ein interaktives VR-Videogame? Einmal die Brille auf, kann man sich nicht mehr entziehen, die totale Immersion. Das erste Mal in der Geschichte ist Kunst nicht mehr das Fenster zu einer anderen Welt, sondern schleudert uns mitten hinein.

Es gibt kein Kunstwerk. Du selbst bist es. Deine Erfahrungen sind das Kunstwerk.

Durch die Perspektive der Virtuellen Realität zeigen uns die Künstler:innen Zukünfte, Gegenwarten und Vergangenheiten unserer Welt. Sie zeigen uns eine Tür, ein Portal, doch hindurchgehen müssen wir alleine. Denn wie bereits Lewis Caroll, Autor der Alice-Romane im 19. Jahrhundert feststellte: “Imagination is the only weapon in the war with reality”. Also, folgen wir weiter dem weißen Kaninchen.

“The Looking Glass” ist eine Ausstellung mit 21 Augmented Reality Kunstwerken von elf Künstler:innen – Nina Chanel Abney, Darren Bader, Julie Curtiss, Olafur Eliasson, Cao Fei, KAWS, Koo Jeong A, Alicja Kwade, Bjarne Melgaard, Precious Okoyomon und Tomás Saraceno. Installiert ist sie in The Shed und auf der High Line in New York City. Die Arbeiten in dieser Ausstellung sind zwar zweifellos real, im Gegensatz zu anderen Ausstellungen jedoch keine greifbaren Objekte. Für das bloße Auge unsichtbar, erwachen sie über die Acute Art App auf den Bildschirmen unserer Smartphones zum Leben. Einmal mit der Kamera aufgenommen, erscheinen sie so real wie die Umgebung um sie herum. Die physische und die virtuelle Welt existieren dann durch die Linse unseres Smartphones für einen Moment parallel nebeneinander. Manche Kunstwerke erscheinen als schelmische Tricks, andere als ehrfurchtgebietende Materialisierungen anderer Welten. Das sind die neuen Möglichkeiten der AR-Technologie. Aber probiert es doch einmal selbst aus ( https://acuteart.com/get-the-app/ ). Und solltet ihr einmal eine echte Spinne oder ein echtes Spinnennetz finden, macht ein Foto davon und ladet es in der Acute Art App hoch. Dadurch erhaltet ihr Zugriff auf eine weitere Spinne. Ihr könnt sie mitnehmen, euch ins Wohnzimmer setzen oder sonst etwas mit ihr anstellen; sie gehört für immer euch.

Marcel Duchamp, The Bride Stripped Bare von Her Bachelors Even (1915-23).

Im Jahr 1927 entdeckte Marcel Duchamp, ein Künstler, der seiner Zeit voraus war, dass sein Glastafel-Kunstwerk „The Bride Stripped Bare von Her Bachelors, Even“ (1915 – 23), das oft als The Large Glass bezeichnet wird, beim Transport Risse bekommen hatte. Die Auswirkungen dieses zufälligen Unfalls störten den Künstler nicht, ganz im Gegenteil, er hinterließ die Risse als integralen Bestandteil des Werkes. Dieses Kunstwerk prophezeite schon damals durch das Spiel mit Transparenz und Reflexion einen virtuellen Raum, der schließlich durch die heutige Technologie geöffnet wird. Duchamps Werk wird so zum Handbuch für das Verständnis der restlichen Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts: The Large Glass ist nicht nur voller undurchsichtiger Flecken und Bilder; es ist natürlich auch transparent. Die Zuschauer:innen sind somit in jeder Situation, ob sie in der Galerie oder im Museum sind, Teil von The Large Glass. Wenn Sie darauf blicken, stoßen sie nicht nur auf Spiegelungen ihrer selbst, sondern ihr Blick geht auch hindurch; man sieht das, was dahinter liegt. Heutzutage tragen fast alle von uns Miniaturversionen dieses Glases in unserer Tasche und können mühelos virtuelle Räume eröffnen. Das große Glas ist damit gleichzeitig eng mit unserem Nervensystem vernäht, denn ein Computerbildschirm ist schließlich auch nichts anderes als ein großes Glas und sieht man sich einmal unsere Bildschirmzeit (meine beträgt ca. acht Stunden pro Tag) an, muss man einsehen, dass wir schon längst alle in The Large Glass leben. Es gibt kein Zurück mehr.

Kunst dient als Frühwarnsystem, das uns auf die Welt von morgen vorbereitet. Die AR-Projekte in The Looking Glass stellen einen Sprung in die Zukunft dar und erkunden völlig neue Möglichkeiten für die Kunst, das Publikum zu erreichen, ohne dass etwas verschickt wird oder jemand reisen muss.

Tomás Saraceno, Webs of Life, 2021.

Einige der Werke überwältigen wie Saracenos riesige Spinnen. Andere entziehen sich uns, so wie Curtiss’ nackte Frau, die dem Betrachter für immer den Rücken zukehrt. Werden wir ihr Gesicht jemals sehen? Wie lässt sich ihre Art, in der Welt zu existieren, am besten beschreiben? Sind es virtuelle Halluzinationen, digitale Fata Morganas?

Damals haben Fotografie und Film die Kunst für immer verändert. Heute scheinen wir Zeugen einer weiteren Transformation zu sein. Diese bahnbrechenden AR-Werke gehören nicht in die Ära der mechanischen Reproduktion. Wir bewegen uns über diesen historischen Moment hinaus und betreten ein neues Kapitel.

Das klingt jetzt vielleicht alt und theologisch, aber wir sind zeitlich und physisch begrenzte körperliche Wesen. Wir sind aus Fleisch und Blut. Ab dem Tag unserer Geburt beginnen wir zu sterben. Was kommt nach dem Tod? Wiederauferstehung? Transzendenz? Finden wir heraus, wie tief das Rabbithole reicht.

Julie Curtiss, Lune, 2021.

Anish Kapoor nimmt uns mit auf eine Reise durch unseren eigenen menschlichen Körper. „Into Yourself, Fall“ (2018). Wir fallen aber nicht wie Alice in den Kaninchenbau, sondern in uns selbst. Möglich wird dieses Erlebnis durch die Mittel der VR-Technologie. Kapoors Arbeit versucht, Vertigo als Abstieg in den menschlichen Körper zu simulieren und ein Labyrinth der inneren Abläufe des Selbst darzustellen. Die virtuelle Reise beginnt in einem Wald auf einer von Bäumen umgebenen Lichtung. Plötzlich bricht der Boden unter den Füßen der Betrachter:innen weg und sie fallen in ein großes schwarzes Loch. Im inneren des Lochs befinden sich verworrene Tunnel und Wände aus sehnigem Gewebe, Blut und Muskeln, durch die die Zuschauer:innen in die Tiefe hinabstürzen. Mit dieser Arbeit lädt Kapoor die Benutzer:innen ein, sich in einer neuen, unbekannten und zugleich vertrauten, anderen Welt zu verlieren. „Into Yourself, Fall“ spielt mit der Erfahrung, ein VR-Headset zu nutzen und erzeugt ein desorientierendes Gefühl radikaler Introspektion, das von den Betrachter:innen physisch erlebt wird.

Anish Kapoor, Into Yourself – Fall, 2018.

Die VR-Technologie ermöglicht uns, so vieles erfahrbar zu machen. Wir könnten die klassischen humanistischen Grenzen hinter uns lassen. Vielleicht haben wir in der Zukunft gar keinen Körper mehr, aber trotzdem körperliche Wahrnehmung oder man steckt in einem anderen Körper, ist plötzlich ein Mann, obwohl man eine Frau ist oder vielleicht sogar ein Tier. Die Virtual Reality ist das ultimative Tool, um uns Menschen mit anderen Augen zu sehen, sei es aus der Perspektive von Hunden, Spinnen, Zellen oder sogar Künstlicher Intelligenz. Es klingt verrückt, aber die Forschung bestätigt, dass das, was wir virtuell erleben, in unserem Gehirn als reale Erfahrung abgespeichert wird. Die Nebenwirkungen davon sind fundamental. Normalerweise ist man irgendwo und irgendwann im Hier und Jetzt. Diese feste Perspektive ist der Schlüssel zu dem, was es heißt, ein menschliches Wesen zu sein und determiniert, wie wir die Welt sehen. Nämlich, dass wir die Welt von einem Ort aus sehen. Das Verrückte an Virtual Reality ist, dass wir jetzt an vielen Orten gleichzeitig sein können. Überall und Nirgendwo. Und das ist etwas sehr Verstörendes. Es zerschneidet, was uns im Kern als körperliche Wesen ausmacht. Droht uns eine virtuelle Schizophrenie? Die Virtual Reality durchbricht unsere Körperwahrnehmung und unsere Identität. Die neuen Errungenschaften der Biotechnologie und Quantentechnologie werden das noch steigern.

Also die blaue oder die rote Pille? Was wird uns die Zukunft noch bieten? Ein Metaversum wie bei Second Life oder eine Zukunft wie bei Stephen Spielbergs Ready Player One? Wer weiß das schon. Aber das Schöne daran, über die Zukunft nachzudenken ist doch, dass wir es früher oder später sowieso herausfinden werden.

von Adriana Correa

Beitragsbild: Artiality über Stuttgarter Nachrichten