Es ist leicht andere Menschen dafür zu verurteilen, wenn sie mal zu tief ins Glas schauen. Joana hat dazu etwas zu sagen, denn so einfach machen darf man sich das nicht – Alkoholkonsum ist eben nicht nur eine Frage der Willenskraft.

Als mein neuer Lebensabschnitt an der Uni begann waren meine Erwartungen groß. Sie waren groß genug, um mich in ein Getümmel zu stürzen, das sehr ungesund für mich war und mir eher schadete, als dass ich tolle Erinnerungen manifestierte. Der Grund dafür war eine für uns ganz alltägliche Flüssigkeit: Alkohol.

Jetzt aber mal ganz von vorne: Als ich an die Uni kam, war ich vorher schon an der Uni gewesen. Alibimäßig. Ich habe in dieser Zeit einiges verkraften und verdauen müssen, weshalb ich sehr optimistisch gestimmt in meinen neuen Lebensabschnitt geschaut habe und so sprang ich im Oktober 2016 in ein Meer voller Einführungsveranstaltungen und Kneipenabende. Dass es mir gar nicht wirklich gut ging, war mir nicht sonderlich bewusst und dass mein Drang ständig unterwegs zu sein kein neu gewonnenes Selbstbewusstsein war, wurde mir auch erst sehr viel später klar. Und noch was sollte ich lernen: Erstens, dass der Alkohol überall ist und zweitens, dass ich auf ihn sehr ungesund reagiere.

Ich weiß nicht, wie viele mir immer noch unbekannte Personen meine gesamte Lebensgeschichte kennen und ich weiß nicht, wie viele glauben, dass ich ein ausgewachsenes Alkoholproblem entwickelt habe, aber ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Denn in diesem Text soll es nicht darum gehen, wie unverantwortlich ich angeblich war, dieser Text soll sich damit beschäftigen, wie unser Umgang mit Alkohol geprägt ist – ich fackel nicht lange herum: er ist voller Doppelmoral. Während er bei jedem noch so erdenklichen Anlass ausgeschenkt wird, es im Winter sogar vor unsere Hörsäle schafft, gehen die meisten Menschen immer noch davon aus, dass sie es mit einem alltagstauglichen Stoff zu tun haben, der sein Suchtpotenzial erst bei exzessivem regelmäßigem Konsum entfaltet und es nur ein bisschen Willenskraft braucht, um die Finger davon zu lassen . Heißt, den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, dass der Alkohol in einer Sache mit Heroin vergleichbar ist und dass diese „Willenskraft“ mehr mit Genetik und einer psychischen Disposition zu tun hat, als sie glauben. Daraus entsteht eine gewisse Hochnäsigkeit und Arroganz gegenüber den Leuten, für die der Alkohol gar nichts Einfaches und Lockeres ist. Das habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Ehrlich gesagt, der verurteilendste Mensch zeigt sich, wenn es um den Alkohol geht. Reagierst du nicht so darauf, wie es die Werbung, oder irgendwelche Bubblegum-Teenie-Filme suggerieren, bist du sehr schnell ein Problem. Denn in diesem Moment bist du schuld. Du bist der Mensch, der die Party versaut, du bist die Person, die alles nicht mehr schön und Instagram-tauglich macht, du reißt ein Loch in die Heile-Welt-Blase der Vorstadt-Mittelschicht. Und letztes Jahr im Sommer, bin ich in den „Genuss“ gekommen, so eine Situation mal als Außenstehende betrachten zu können: Ein offensichtlich Betrunkener bekam von einer anderen Person andauernd unterschwellig mitgeteilt, wie ekelhaft das sei, dass er jetzt so betrunken ist. Das war tausendmal unangenehmer als das betrunkene Verhalten und das ist nicht nur menschlich uncool, sondern auch nicht sonderlich schlau: Alkohol ist ein Gefühlsverstärker und Betrunkene bekommen mehr mit, als man so denkt. Wenn die Situation an sich schon ungesund sind, muss man sie als nüchterner Mensch nicht noch ungesünder machen.

Meine Scham über meinen Uni-Start ist mittlerweile verflogen. Sie wurde durch Unverständnis ersetzt. Vor allem diesen Fingerzeig verstehe ich immer noch nicht. Alkohol ist eine verdammte Droge, kein Lifestyle-Produkt, mit dem man beweisen kann, wie ach so toll man ist. Und deshalb habe ich vor kurzer Zeit einen Brief geschrieben. Um diesem Unverständnis mal Luft zu machen. Es ist ein Brief an eine imaginäre Person – ich habe sie Annika genannt, angelehnt an Alman-Annika. Und wo veröffentlicht man sowas besser, als hier im Studimagazin – viel Spaß damit!

Hallo Annika,

Hallo Mädle,

Ich glaube vorweg gibt es schon mal eins zu sagen: Auf deinem Jutebeutel steht Weinschorlééé, du hast nicht pikiert zu sein, wenn mal wirklich jemand säuft!

Du brauchst dich jetzt  gar nicht über das “Mädle” beschweren und dass ich doch so sexistisch wäre und damit eine Doppelmoral hinlege, denn darum geht es jetzt nicht. Es geht nämlich hier um dich und um deine Einstellung, die nicht viel von geistiger Reife zeugt, denn während du deinen schönen Jutebeutel mit dir rumschleppst und vor dem Treffen im Park deinen Somersby Cider holst, ist dir jeder Anflug von Betrunkenheit bei anderen Menschen zuwider & denkst dir sowas wie “Dann muss man sich halt mal beherrschen können” – und klingst damit eher wie ein Boomer, als wie Mitte 20. Dann feierst du das schöne Wetter mit einem “Stößchen” mit deinen Freundinnen und abends gibt es zum Grillen zwei Gläser Wein. Und wie wundervoll und entspannt hätte dieser Abend sein können, wenn da nicht deine eine Freundin gewesen wäre, die aus zwei Gläsern vier gemacht und wieder zu viel geredet hat, meinst du nicht?  Ohne sie hätte dieser Abend der perfekte Somersby-Werbespot sein können, vorzeigbar, sonnig, fast noch mit einem Retrofilter, doch sie hat alles zerstört – weil sie “schon wieder nicht nein sagen konnte”. Was für eine schlechte Freundin sie doch ist, oder? Ihr ist das nächste Glas immer wichtiger, als alles schön vorzeigbar und blumig zu halten. Du findest sie egoistisch und peinlich, denn “so schwer kann das doch nicht sein!” und mehr als zu verurteilen fällt dir dazu nicht ein.

Allerdings vergisst du eins, liebe Annika: Deine Doppelmoral, dein fehlendes Nachdenken und deine krampfhafte Orientierung daran, was vorzeigbar ist. Eine Sucht ist für dich einfach eine unstillbare Gier, der mit freier Entscheidung und Ignoranz nachgegeben wird und Alkohol ist für dich ein lustiger Begleiter, der deine Grillabende versüßt. Oder deine Parkbesuche. Oder deine Geburtstage. Oder deine Freitagabende. “Manche sollten es halt einfach lassen, weil sie damit nicht umgehen können.”, denkst du dir und heimlich fühlst du dich ein bisschen besser als diese “Manche”. Und lässt diesen so süchtig machenden Stoff in deinem Alltag, als wäre es die Tafel Schokolade, die man sich gut und gerne mal genehmigt. Anstatt dein Wissen anzupassen und nachzudenken, bleibst du lieber bei deinen ganzen erlernten Glaubenssätzen um den Alkohol und stellst dich unberechtigt auf das Podest der Willenskraft, während du mit dem Finger auf andere zeigst, die das mit dem Alkohol nicht so schaffen wie du. Weil sie einen genetischen Marker haben, oder ganz andere Dinge erlebt haben, oder eine unbehandelte psychische Erkrankung – das käme dir nicht in den Sinn, denn das sind alles meistens Ausreden. Ausreden, um sich nicht an dich tollen Menschen und deine “fehlerlose” Welt anpassen zu müssen, die mit einem Glas Rotwein gleich noch viel besser aussieht.

Aber eigentlich bist du einfach wirklich nicht der gute Mensch für den du dich hältst – du bist die, die den Weinschorle-Jutebeutel mit sich herumschleppt und trotzdem mit dem Finger auf andere zeigt. Nicht mehr.

Text und Beitragsbild von Joana Hammerer

Quellen

[1] Alkoholabhängigkeit hat ähnliche genetische Grundlagen wie andere psychische Erkrankungen | Gesundheitsstadt Berlin

[2] Die genetischen Faktoren

[3] Suchtpotenzial von Alkohol wie bei Heroin : Internisten im Netz