Wer sich auf Tinder traut, ist ganz schön mutig. Aber die App ist nicht nur für ihre legendär schlechten Anmachen und unerwünschten Dick Picks bekannt – manchmal ist die Kluft zwischen Online-Chemie und Real-Life-Connection einfach doch zu unterschiedlich…

Es war einmal an einem dunklen, tristen Abend im November, die zweite Welle und mit ihr auch der zweite Lockdown begannen sich langsam in ihrer ganzen Hülle und Fülle zu entfalten, da installierte ich mir die App mit der kleinen roten Flamme auf mein Smartphone. „Eigentlich war ich immer skeptisch gegenüber Tinder eingestellt, aber…“ – so oder so ähnlich würde es wohl jede:r zweite ausdrücken, der ausgerechnet während Corona zu tindern begann. Ganz ehrlich: Mehr als ein Jahr ist seitdem vergangen, meine Skepsis ist nur noch größer geworden. Gleichzeitig aber konnte Tinder, bedingt durch die Pandemie, mit einem gewissen Imageaufschwung punkten. Was in Prä-Corona-Zeiten von vielen noch als eher abwegig empfunden wurde, wird heute oft von eben denjenigen akzeptiert, wenn nicht sogar selbst praktiziert.   

Während meiner gesamten Schulzeit befand ich mich kein einziges Mal in einer Beziehung, ob es an meinem anfänglichen persönlichen Desinteresse daran oder dem später wachenden Auge der Schulgemeinschaft lag bleibt ungewiss. Dann kam das Abi – garniert mit Corona – und eine wahrhaftig schöne, aber leidlich kurze Sommerromanze. Bereits damals war abzusehen, dass ich meine ursprünglichen Hoffnungen, meine zweite Hälfte am Nebenplatz im Auditorium zu finden, langsam, zumindest vorerst, im Sand vergraben konnte. Ich will jedoch nicht abstreiten, dass das Onlinesemester für mich auch zugleich ein kleiner Segen war: Über soziale Medien gelingen mir erste Kontaktaufnahmen deutlich besser als im realen Leben. Bloß gehen solche Bekanntschaften bei mir leider selten über Konversationen auf WhatsApp hinaus. Und so erblickte ich zum ersten Mal die konzentrischen rosa Kreise um meinen runden Avatar auf dem Display meines Smartphones.

Elf Monate vergingen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht noch anmerken, dass ich manchmal über Monate hinweg Tinder gar nicht erst öffnete. Dann aber mich wieder tapfer täglich hin- und herswipte. Es waren großartige elf Monate gewesen, voller Reisen und schöner Begegnungen. Nur auf Schmetterlinge im Bauch wartete ich vergebens; woher sollten diese auch kommen, wenn sich ein Großteil des Lebens nun eher im zweidimensionalen Raum meines Bildschirms abspielte. Der Herbst war also wieder ins Land gezogen, ein neues Semester begann. In Präsenz. Teilweise. Wurde zunehmend hybrid. Oder ganz online. Aber es begann in Präsenz! Und man kannte sogar die lieben Mitstudierenden, erkannte sie aber nicht einmal unter den Masken. Lauter unbekannte Freunde. Oder gut bekannte Fremde.

Hin und wieder gab es sogar mal ein Match. Allerdings doch sehr, sehr selten. Eines im Monat vielleicht, und das erste wahrscheinlich auch erst nach gut einem Vierteljahr. Eine extrem entmutigende Erfahrung, welche auch die Ursache für meine zeitweise doch sehr sporadische Anwesenheit auf Tinder gewesen sein konnte. Wenn es mal ein Match gab, dann ging es über eine Konversation auf Tinder nicht hinaus. Und dann dieser besonders aufregende Moment: Das erste Mal eine Handynummer! Eine Woche lang chatteten wir wie verrückt miteinander. Bei weitem nicht alle sind fähig, mehrere Stunden am Stück Nachrichten auszutauschen. Umso mehr schätze ich Menschen, denen dies nicht nur gelingt, sondern offensichtlich auch Spaß bereitet. Es schien, wir seien wie gemacht für einander. Selbst unsere sexuellen Fantasien bewegten sich im selben Universum. Es war nun höchste Zeit, aus dem Virtuellen herauszutreten.

Ein etwas regnerischer Dienstagmittag war es, Menschen mit und ohne Regenschirme hasteten über den Hugo. Wir erkannten uns sofort – und doch erkannte ich sie nicht wieder. Ein Avatar kann unter Umständen nämlich nicht allzu viele Informationen über die Person insgesamt vermitteln – was einen natürlich dazu bewegt, sich das Fehlende gedanklich zurecht zu fanatisieren. Problematisch könnte dies aber werden, wenn dieses Fantasiebild nicht ganz mit der Realität übereinstimmt. Es zählt aber das Innere – nicht das Äußere – sagt man gerne. Geplant war ein Cafébesuch – ein Date mit einem Hauch Mexikos. Wir kamen ins Gespräch – es war aber ganz anders als im Virtuellen. Als hätten unsere Frequenzen sich auf einmal desynchronisiert. „Ob das was wird?“ dachte ich mir. Nichtsdestotrotz machten wir einen kleinen Spaziergang zusammen, ich begleitete sie bis zu ihrem Zuhause. An der Eingangspforte blieben wir stehen.  Es wäre schön, wieder was zusammen zu unternehmen, sprachen wir uns gegenseitig zu. Ob sie am Samstag Zeit habe, fragte ich sie. Müsste sie hinbekommen, bekam ich als Antwort. Seitdem sah ich sie nie wieder.

Man hat mich auf Tinder entfernt, auf WhatsApp geblockt, auf Insta gebannt. Ich war nicht einmal traurig darüber – stimmten die Frequenzen ja eh nicht mehr überein. Man könnte fast sagen, ich wäre erfreut gewesen, über einen solchen Ausgang, schließlich blieb von meiner anfänglichen Euphorie nach dem Treffen nicht mehr viel übrig. Was mir aber bis heute nicht klar wurde: Wozu denn erst ein Treffen ausmachen und dann solch radikale Maßnahmen ergreifen? Frauen sind manchmal wahrlich ein kleines Mysterium. Und ich? Meine Tinder-Abenteuer habe ich seitdem fortgesetzt. Und je mehr ich all die „Zu Vino sag ich Wein“- und „Match me if you can“-Profile auf die rechte oder linke Seite wische, desto weniger glaube ich daran, hier auch ansatzweise auf ein Mädel auf der gleichen Wellenlänge zu stoßen. Und dennoch, wenn er sich noch nicht verliebt hat, so tindert er noch heute.

anonym