Unsere Autorin Celina ist begeistert von der schauspielerischen Leistung des Ensembles – die Inszenierung an sich bleibt ihrer Meinung nach jedoch hinter den Möglichkeiten zurück, die Max Frischs Originaltext bietet.

Am Ende des zweistündigen Stücks, verlasse ich das Theater verwirrt – und das, obwohl ich Andorra stundenlang im Deutschunterricht besprochen habe. Oder vielleicht auch gerade deswegen: Frischs Originaltext ist ein Meisterwerk, das innerhalb von einhundert Seiten ein erschreckend aktuelles Porträt von Alltagsrassismus, dessen schwerwiegenden Folgen und „schuldfreien“ Diskrimierenden zeichnet. Es zeigt, wie Andri („der Jud“) impliziten und expliziten Rassismus internalisiert und wie diese gesellschaftlich akzeptierte Diskriminierung langfristig an seiner Person zehrt. Leider bleibt das Theater Erlangen mit dieser Inszenierung mit seinem Anspruch „einen aktuellen Beitrag zur Debatte, um Antisemitismus und Rassismus zu leisten, aber diese auch kritisch zu betrachten“ weit hinter den Möglichkeiten, die der Originaltext bietet.

Der Abend beginnt mit einer fünfzehnminütigen Einleitung zu dem Stück, die vor allem aus kryptischer Exposition und düsteren Singsang der Schauspieler:innen besteht. Während ich angestrengt versuche den Liedtext zu folgen, zieht ein riesiges Holzrondell in der Mitte der Bühne und die sich dahinter befindenden Holztribünen, meine Aufmerksamkeit auf sich. Und leider werden mich diese Eigenheiten der Inszenierung für den Rest des Stücks immer wieder von den Schauspieler:innen und der Handlung ablenken. Ich versuche nämlich bis zum Ende nachzuvollziehen, welche dramaturgische Funktion sowohl das sich scheinbar teils zufällig drehende Rondell als auch die Lieder einnehmen sollen.

Bühnenbild und das ganze Ensemble im ersten Teil des Stücks (Foto: Jochen Quast).

Sobald das Stück sich zur eigentlichen Handlung aus dem Originaltext bewegt und die erste richtige Szene beginnt, werde ich erinnert, warum ich Theater liebe. Um die Unschuld der Andorraner zu betonen, wird das ganze Ensemble in weiß gekleidet. Die schauspielerische Leistung ist bemerkenswert und berührt mich tief. In den richtigen Momenten wird das Bühnenbild sowie die Ausleuchtung reduziert und der gesamte Fokus liegt auf den Charakteren. Gebannt beobachte ich wie Andri unaufhaltsamen durch das Verhalten und die Aussagen der Andorraner zerstört wird. Die eskalierende Verzweiflung und sich daran anschließende herzzerbrechende Resignation Andris spielt Sebastian Degenhardt schmerzlich überzeugend. Und trotzdem schafft es die Inszenierung in den richtigen Momenten Situationskomik einzubauen, lässt den Charakteren genug Platz, damit die Zuschauer:innen sie kennenlernen können. Die Wahl, Andorra durch kleine Papphäuser darzustellen, ermöglicht es, den Zusammenbruch der „perfekten“ Stadt durch das aggressive Wegräumen der Häuser zu betonen.

Gerade als ich euphorisiert aus der Pause zurückkehre, der komisch anmutende Anfang scheint vergessen, muss ich enttäuscht feststellen, dass der Zenit des Abends überschritten ist. Ich kenne kaum einen Text, der die Auswirkungen von rassistischen Denkmustern auf das Leben Diskriminierter, deren Chancen und deren mentale Gesundheit besser nachzeichnet als Frischs Stück. Besonders die konstante Abweisung der Schuld durch die Andorraner und die Darstellung von kollektiver Schuld hallt bis heute in mir nach. Die Andorraner sind keine durch und durch bösen Menschen, das wäre zu einfach, zu fiktiv. Anstelle dessen sind viele der Aussagen allzu real, allzu bekannt.

Der Tischler (Oliver Jaksch) mit Andris (Sebastian Degenhardt) vermeintlichem Stuhl (Foto: Jochen Quast).

„Weil ich ihn nicht in meiner Werkstatt wollte […]. Wieso wollte er nicht Verkäufer werden. Ich dachte, das würd ihm liegen […]. Ich kann nur sagen, dass ich es im Grund wohlmeinte mit ihm.“

Allerdings scheint die Geschichte in der Inszenierung des Theaters unvollendet. Der zentrale Handlungsstrang, dass Andri kein Jud ist, der noch einmal eindrücklich zeigt, wie willkürlich Diskriminierung abläuft, wird aus unerklärlichen Gründen weggelassen. Der zweite Teil des Stücks ist von Monologen geprägt, die das Stück erzählen, anstelle zu zeigen. Dadurch hinken die Zuschauer:innen hinter der Handlung her, in dem verzweifelten Versuch die Zusammenhänge der letzten Szenen zu verstehen sowie diese in die zeitliche Abfolge des Stücks einzuordnen.

Das Potential des Abends hängt nach dem Fall des Vorhangs in der Luft, eine unangenehme Pause entsteht, da sich das Publikum unsicher ist, ob dies nun wirklich das Ende gewesen sein soll. Die Schlagkraft, die ich mir von diesem Abend erhofft hatte, verpufft in der Luft, gemeinsam mit einem Großteil der zentralen Aussagen der Textvorlage. In meinem Kopf bleibt eine Frage zurück: Wie kann aus einem genialen Originaltext und überragender schauspielerischer Leistung ein derart durchschnittlicher Theaterabend entstehen?

Eins ist sicher: Diese Art der Inszenierung von Andorra ist einzigartig, der Grund dafür liegt aber wahrscheinlich nicht in der fehlenden Kreativität anderer Theater. Ich wünsche mir, dass in den Köpfen der anderen Zuschauer:innen im Gegensatz zu mir die Mitte des Stücks hängen geblieben ist, dass sie den Abend als Diskussionsgrundlage nutzen können und sich die bewegende Geschichte Andris, die symbolhaft für so viele Menschen steht, festsetzt. Und eigentlich wünsche ich mir vor allem, dass sie den Abend als Anlass nehmen, um den Originaltext zu lesen.

„Andorra“ von Max Frisch

am Theater Erlangen

Regie & Musik: Markolf Naujoks

Bühne: Marina Stefan

Kostüme: Theda Schoppe

Dramaturgie: Udo Eidinger

Besetzung: Sebastian Degenhardt, Vera Hannah Schmidtke, Hermann Große-Berg, Ralph Jung, Justin Mühlenhardt, Oliver Jaksch, Elke Wollmann, Alissa Snagowski

Termine & Tickets findet ihr hier.

von Celina Eichhorn

Beitragsbild & Fotos im Text: Jochen Quast