Die ganz existenziellen Fragen angehen. Genau diesen Anspruch hat das Gostner Hoftheater mit Stasiuks “Nacht” an sich gestellt.

Man könnte behaupten, Theater sei gegenüber dem Medium “Film” unfair benachteiligt: Keine Spezialeffekte, eine einzige Bühne, nur ein Take und lediglich wenige Schauspieler:innen. Um mit viel weniger Ressourcen das Publikum zu begeistern, muss es inhaltlich umso mehr stimmen. Genau in dieser vermeintlichen Schwäche kann man nun auch die Stärke des Theaters sehen: Im Fokus auf die individuellen Schauspieler:innen. Auf das minimalistische Bühnenbild. Auf den Inhalt, auf die Message.

Mit Stasiuks Nacht schafft es das Team am Gostner Hoftheater genau diese Stärken voll auszuschöpfen. Es ist ein unwahrscheinliches Szenario, in dem es gelingt, sich den ganz großen Fragen nach dem Tod, Glauben und der eigenen Identität zu stellen. Ein polnischer Dieb will einen deutschen Juwelier ausrauben. Doch der Bruch geht schief als der Juwelier die Bande sieht. Er schießt und trifft. Der Dieb ist tot.

Doch auch der alte Juwelier schwebt in Lebensgefahr: Er ist so sehr in Rage, dass er einen Herzinfarkt bekommt – und ein Spenderherz braucht. Die einzige Option ist das Herz des Räubers, den er erschossen hat. Aber kann er das wirklich akzeptieren? Das Herz eines Polen? Gibt es denn kein Spenderherz eines Schweden? Oder zumindest eines Italieners?

Den Ärzten gegenüber zeigt der Juwelier Schwäche: “Ich habe einfach Angst vor dem Tod.” Aber nicht nur – “Aber auch vor dem Osten. Was wenn ich all das, was ich mir durch Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und harte Arbeit verdient habe, dann einfach abgebe?”.

Das Gostner bewirbt das Stück als eines über Vorurteile, doch eigentlich geht es um die eigene Identität und die Identität der anderen. Genauer: Um die wahrgenommene Identität. So sehr der Juwelier auch Vorurteile über Osteuropa verbreitet, so sehr zeigt sich auch, dass seine eigene Identität nur durch die vermeintliche Abgrenzung von denen funktioniert. Meine Ehrlichkeit vs. deren Verlogenheit. Meine Ordnung vs. deren Unordnung.

Der tote Räuber (Tristan Fabian) muss sich kritische Fragen von seiner Seele (Maria Mund) gefallen lassen.

Auch der Dieb muss sich die Frage gefallen lassen, wie es um seine Identität bestellt ist: Im Jenseits nimmt er erstmals bewusst seine Seele wahr, die so ganz und gar unzufrieden mit ihm ist. Doch wo sie ihn verurteilt für seine Begierden nach geilen Autos und Ärschen, findet er stets Rechtfertigungen – er sei ja weniger ein Dieb als ein Reisender – und Begierden seien ja nur menschlich.

Weil ihm die Ärzte verschweigen, dass das Herz von einem, von diesem Dieb kommt, willigt der Juwelier doch in die Transplantation ein. Nach der Operation realisiert er schließlich doch, wessen Herz er da hat – wie sollte es auch anders sein? Was ihn zunächst in Rage versetzt, löst sich letztlich in Wohlgefallen auf: Schließlich lieben sie beide ja deutsche Autos.

Dieser Sinneswandel wirft erneut die Frage nach der eigenen Identität auf. Wie stabil ist sie eigentlich? Wählen wir einfach unsere Identität so, wie es aktuell am bequemsten ist? Bestimmen wir so auch, wie wir andere wahrnehmen? Damit wir uns besser fühlen?

Auch der Juwelier (Thomas Witte) wird von der Seele (Rebecca Kirchmann) mit Fragen über seine Identität konfrontiert.

Durch Monologe und direkte Publikumsansprache wird versucht, noch viele weitere Fragen zumindest aufzuwerfen: Besteht die Beziehung zwischen Ost und West nur aus dem Transport von Autos in die eine und von Menschen(teilen) in die andere Richtung? Wie ist es um die deutsche Geschichte bestellt? Es sind zu viele Fragen, für eine vollständige Auflistung. Man könnte unterstellen, es sind zu viele für eine einzelne Aufführung.

Doch eigentlich liegt genau darin eine Stärke des Stücks, es befasst sich nicht monolithisch mit einem Thema. Die Zuschauer:innen können sich aus verschiedenen Blickwinkeln komplexen Themen nähern.

Dass das klappt, liegt aber nicht nur am Drehbuch, sondern auch an der Darbietung der Schauspieler:innen. Besonders Thomas Witte überzeugt als der Juwelier. Besonders in der ersten Hälfte ist sein Charakter fast nur passiv, nahezu ohne Gesprächsanteile, und doch agiert er als Amplifikator für die Handlungen und Aussagen der anderen.

Wie eingangs erwähnt ist das Medium Theater systematisch gegenüber dem Film benachteiligt, in Ermangelung an CGI oder unterschiedlichen Locations. Doch gerade der Minimalismus ermöglicht es, einzelne Aspekte zu überzeichnen und herauszustellen. Laute Elektromusik steht im Kontrast zu Rezitationen von Goethe und Schiller. Auch im Bühnenbild ist Minimalismus angesagt: Jedes Element wird mehrfach und für verschiedene Dinge verwendet. Die Grenzen zwischen Vorder- und Hintergrund verschwimmen.

Dank dieser Kombination von Stasiuks Nacht und der gewählten Darbietungsformen, gelingt es am Gostner Hoftheater, kritische Fragen aufzuwerfen – und einige Antworten schuldig zu bleiben. So verschwimmen auch die Grenzen zwischen Theateraufführung und Diskussionen über mögliche Interpretationen danach.

„Nacht“ nach Andrzej Stasiuk

Regie: Łukasz Witt-Michałowski

Bühne & Kostüme: Jörg Zysik

Besetzung: Tristan Fabian, Rebecca Kirchmann, Maria Mund, Thomas Witte

Text: Bastian Heinlein

Bilder: Christian Vittinghoff