Diesen Abend sollte nur meiden, wer Angst vor weißen Adiletten hat. Und selbst diese können, sollten ihn als musikalisch-atmosphärische Expositionstherapie nutzen.

Ein charmantes Vorspiel vor dem Vorhang legt den Ton des Abends fest: es wird absurd, komisch, witzig, seltsam, sprachverspielt. Wer sich darauf einlässt wird viel Spaß haben, auch wenn man sich im Eifer des Gefechts das ein oder andere emphatisch-vergnügte „Hä?“ womöglich nicht verkneifen kann.

Alice (Llewellyn Reichman) will wieder raus aus dem Kaninchenbau – sie sucht den Heimweg. Aber niemand weiß, wo es langgeht! Herzkönigin (Annette Büschelberger), Hexe (Karoline Reinke), Katze (Nicolas Frederick Djuren), Raupe (Sascha Tuxhorn), Hase (Justus Pfankuch) und Hutmacher (Janning Kahnert) sind ihr jedenfalls keine Hilfe. Alle zeigen sie in eine andere Richtung. Von wo aus? Das kommt auf den Standpunkt an. Wohin? Das kommt darauf an, wo du hinwillst.

Sobald der Vorhang hochgeht, tut sich auf einer Drehbühne (Bühne: Benjamin Schönecker) eine Lichtung aus Musikinstrumenten auf, umgeben von Lichtsäulen (Licht-Design: Albert Geisel) zentriert um eine einsame, freistehende Tür. Der Elefant im Raum, sozusagen: die Möglichkeit zur Ausflucht oder die Einladung zum Eintreten, die direkt vor der Nase aller stur geschlossen bleibt und sich bis zum Schluss in keine Richtung entscheidet.

Alice (Llewellyn Reichman) hat Heimweh (Foto: Konrad Fersterer).

Eine linear nachzuvollziehende Handlung gibt es in dieser Interpretation des Wunderlands nicht, aber die ist auch nicht nötig. Es geht viel weniger um die Geschichte des Mädchens Alice als um das Ich und das Du und das Wir und das Uns. Es geht darum, wie man Sich Selbst (sprachlich) abgrenzt vom Den Anderen, wie man In-Group und Out-Group definiert. Wie man entscheidet, wer dazugehören darf und wer nicht; wie man entscheidet, welche Regeln diejenigen zu befolgen haben, die dazugehören wollen. Es geht auch um eine Gesellschaft, die kategorisch Menschen ausschließt und manchen gezielt die Entscheidung abnimmt, ob sie dazugehören dürfen oder nicht, ohne Ausweg, ohne Schlupfloch. Eine Gesellschaft, die nun mal die Macht hat zu entscheiden, wem welche Türen offenstehen oder verschlossen bleiben.

Die daraus resultierende Außenseiterschaft, das Alleingelassen-Werden und die bisweilen erdrückende Einsamkeit finden sich in allen Charakteren, und nicht zuletzt in Alice‘ verzweifelter Warnung an sich selbst, nicht zu weinen (damit sei niemandem geholfen). Auch die Musik von Vera Mohrs und Kostia Rapoport greift sie regelmäßig auf, in klagenden Balladen und Klanglandschaften, bevor es wieder mit Kazoo-Polonaise und Marsch mit Kinderlied-Sprenkeln rundgeht – vom Sprechgesang bis zur High-Note, vom Kanon bis zum Horror-Soundtrack ist in diesem Instrumenten-Arsenal alles dabei.

Mit viel Energie zaubert das Ensemble einen kurzweiligen, mitreißenden Abend (Foto: Konrad Fersterer).

Der Text (Johanna Wehner) besteht beinahe ausschließlich aus Satzverdrehungen, ganz in Lewis Carrolls Nonsens-Manier. Ein Wort folgt wie aus der Pistole geschossen dem nächsten, wird mit Gusto zerlegt und gedreht und gewendet. Die Figuren verlassen dabei immer wieder die Leitlinie auf verwickelten Sprachtangenten und landen bei den seltsamsten Off-Topics (Badezimmerfugen!). Mitzuhalten macht Spaß, ohne dass man sich (anders als die Protagonistin) in den Sprachpartituren besonders arg verloren fühlen muss.

Text, Musik und Spiel greifen als wundervolle Gesamtkomposition ineinander. Alles ist perfekt getaktet, bis hin zum kleinsten Innehalten, sodass sich der Abend anfühlt wie eine Sinfonie aus Sprache, Klang und Absurdität. Hut ab: eine bewundernswerte Leistung.

“Alice im Wunderland” (UA) von Johanna Wehner, Vera Mohrs & Kostia Rapoport

am Staatstheater Nürnberg

Musikalische Leitung & Komposition: Kostia Rapoport & Vera Mohrs

Regie: Ensemble mit Johanna Wehner, Janning Kahnert, Paula Pohlus

Text: Johanna Wehner

Liedtexte: Vera Mohrs

Bühne: Benjamin Schönecker

Kostüme: Miriam Draxl

Dramaturgie: Brigitte Ostermann

Licht-Design: Albert Geisel

Besetzung: Llewellyn Reichman, Annette Büschelberger, Karoline Reinke, Nicolas Frederick Djuren, Sascha Tuxhorn, Justus Pfankuch, Janning Kahnert

von Svenja Plannerer

Beitragsbild & Bilder im Text: Konrad Fersterer