Jan ist ausgebildeter Sanitäter und auch bei Demos in dieser Funktion aktiv. Hier berichtet er von den Geschehnissen bei Lützerath und den Begegnungen zwischen Polizei und Aktivisti vom 14. Januar, dem Tag der Großdemonstration.
Mein Name ist Jan, ich bin 22 Jahre alt und habe den Beruf Notfallsanitäter gelernt. Ich bin ein politischer Mensch und gehe seit meiner Jugend auf Demonstrationen. Demnach war es für mich naheliegend, meine Möglichkeiten zu nutzen und so habe ich mich vor zwei Jahren einer Gruppe Demosanis angeschlossen.
Seitdem bin ich immer wieder auf Demonstrationen vor Ort und sichere diese mit mindestens einer weiteren Person ab. Wir gehen auf Großdemonstrationen ebenso wie auf kleine Kundgebungen. Wir versorgen Menschen nicht nur bei Zusammenstößen mit gewaltbereiten Rechten oder Polizeigewalt, oft helfen wir bei Hitzeerschöpfungen, Unterzucker oder verteilen Blasenpflaster. Wo Menschen zusammenkommen, da kann eben auch etwas passieren. So auch bei den Protesten gegen die Räumung von Lützerath. Also habe ich meine Sachen gepackt und bin in den beschaulichen Ort Keyenberg gefahren, wo die Protestbewegung ein Solicamp aufgebaut hat und am Folgetag die Großdemonstration starten sollte.
Am 14.01. zog ich meine Einsatzkleidung an, nahm meinen Rucksack auf die Schultern und ging zum Sanizelt, von wo aus die Koordination aller Demosanis lief. Es hatten sich ungefähr 20 Red Sanis aus dem ganzen Bundesgebiet eingefunden. Als Red Sani bezeichnet man Menschen, die eine anerkannte medizinische Qualifikation haben und während der Veranstaltung deutlich an ihrer grellen Einsatzkleidung erkennbar sind. Sie sind nicht Teil einer Demonstration, sondern begleiten sie lediglich, um die Menschen medizinisch abzusichern. Es gibt auch Black Sanis, die sich als Teil der Veranstaltung sehen, keine Einsatzkleidung tragen und oft gar nicht in ihrer Funktion erkennbar sind. Als Red Sani treffe ich sie eher zufällig und oft weiß ich gar nicht, ob oder wie viele Black Sanis vor Ort sind. So auch dieses Mal.
Wir hatten besprochen, dass ich mit zwei weiteren Personen das vordere Drittel der Demonstration begleiten sollte, also begaben wir uns gleich an unsere Position. Schon am Anfang war es nicht einfach abzuschätzen, wo das vordere Drittel überhaupt endete, weil so viele Menschen kamen, dass es unmöglich war, den kompletten Demozug in seiner Länge zu überblicken. Es regnete und bei dem sehr langsamen Vorwärtskommen in Keyenberg war zumindest meine Stimmung eher gedrückt und die nass-kalten Füße sowie der 20 Kilo schwere Rucksack machten es auch nicht unbedingt besser. Erst als die Demonstration den Ort verließ und sich auf einer kleinen Landstraße zur Kundgebungsfläche bewegte, kam bei vielen Stimmung auf. Bisher war es ruhig. Wir hatten keine Behandlungen und von der Polizei war kaum etwas zu sehen.
Kurz bevor wir bei der Kundgebungsfläche ankamen, bemerkte ich, wie hinter mir einige hundert Menschen den Demozug verlassen hatten und sich in Richtung des Tagebaus bewegten. Weil wir damit rechneten, dass sich die Polizei bemühen würde, zu verhindern, dass sie dort ankamen und weil genug Demosanis bei der Kundgebungsfläche waren, beschlossen wir, in sicherem Abstand den Menschen zu folgen. Von der Abbruchkante hielten wir uns aus Eigenschutz fern, doch die Aktivisti schafften es beinahe ungehindert, dorthin durchzukommen. Die Polizei war deutlich in der Unterzahl und versuchte gar nicht, ein Durchkommen zum Tagebau zu verhindern.
Dann tauchte eine Staffel Polizeipferde auf. Wir lehnen den Einsatz von Pferden auf Demonstrationen entschieden ab. Pferde sind Fluchttiere und können in solchen Situationen mit vielen Menschen, Lärm und Hektik unberechenbar reagieren und im schlimmsten Fall viele und schwere Verletzungen verursachen. Es wird zwar oft argumentiert, dass die Pferde ein spezielles Training erfahren und dadurch an solche Situationen angepasst sind, aber bereits beim Heranreiten der Pferdestaffel ging ein Pferd mit dem Reiter auf dem Rücken durch und galoppierte nur knapp an einer Traube Menschen vorbei. Wenige Minuten später warf ein Pferd seine Reiterin ab.
Es zeichnete sich unterdessen ab, dass die Polizei Reihen bildete, um die heranströmenden Menschen aufzuhalten. Wir befanden uns auf einem Feld, das vom Regen und den vielen Wanderstiefeln in eine große Schlammpfütze verwandelt worden war, als es zu ersten Rangeleien kam. Offenbar wurde von der Einsatzleitung der Befehl gegeben, nicht weiter Platz zu machen und die Beamt:innen zogen ihre Schlagstöcke. Es folgte ein langwieriges Hin und Her. Die Aktivisti hakten sich in mehreren Reihen ein und versuchten, die Polizei mit ihren Körpern zurück zu drängen. Die Polizei wiederum hielt die Menschenmassen erst mit Schlägen und Tritten zurück, bevor sie sich ein paar Meter zurück zogen. Dann konnte man beobachten, dass die Polizist:innen sich neu formierten und eine Person hinter der Reihe bis drei zählte, woraufhin alle mit gezogenem Schlagstock und lautem Gebrüll auf die Menschen losrannten. Diese Situation war für uns eine besondere Herausforderung, weil wir auf keinen Fall zwischen die Polizei und die Aktivisti gelangen wollten und wir ständig unsere Position verändern mussten, um nicht selbst gefährdet zu werden. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, wie die Polizei mit uns umgehen würde und eine Faust im Gesicht wollte ich dann doch eher vermeiden.
Während dieses Katz-und-Maus-Spiels hörten wir auch die ersten „Sani!“-Rufe aus der Menschenmenge. Es war ein entscheidender Moment, als erkennbar war, dass wir genau zwischen der Aktivisti- und der Polizeikette hindurch müssten, um zu einer verletzten Person zu kommen. Wir liefen langsam und mit erhobenen Händen auf die Polizei zu und versuchten Blickkontakt aufzunehmen. Als uns einer der Polizisten zunickte, wussten wir, dass wir sicher zu der verletzten Person weitergehen konnten und vor allem, dass wir von der Polizei nicht wie Teilnehmende des Protests behandelt werden.
Bei den Behandlungen fiel auf, dass ungewöhnlich viele Kopfverletzungen dabei waren. Die Polizei ist dazu verpflichtet, den Einsatz des Schlagstocks auf die Extremitäten zu begrenzen. Nur im Notfall ist der Einsatz gegen den Körperstamm zulässig. Gegen den Kopf nie.
Während wir Menschen versorgten, gelangen den Protestierenden weitere Durchbrüche und so drangen sie bis zum Zaun, den die Polizei eng um Lützerath errichtet hatte, vor. Sechs Wasserwerfer wurden aufgefahren, um diese letzte Barriere abzusichern. Die Situation wurde erst einmal statisch. Zwar konnten wir an verschiedenen Punkten wiederkehrende Rangeleien beobachten, aber es ging weder vorwärts noch zurück. Immer wieder setzte die Polizei Wasserwerfer ein, allerdings trug der starke Wind das meiste Wasser direkt zurück in die Polizeireihen. Bei knapp über null Grad war das sicherlich keine erstrebenswerte Erfahrung. Von Aktivisti, die es doch erwischt hatte, erfuhren wir, dass nur Wasser versprüht wurde und nicht, wie es manchmal praktiziert wird, Reizgas untergemischt war.
Als es begann dunkel zu werden, veränderte sich die Situation. Die Polizei wollte scheinbar den Protest beenden und begann, die Aktivisti zurückzudrängen. Wir bemerkten zuerst nur, dass es mehr und lautere Demorufe gab und plötzlich mehr Verletzte zu uns kamen. Als wir sie behandeln wollten, sahen wir auf ein Mal, dass eine Polizeikette nur noch 10 Meter von uns entfernt war und schnell auf uns zukam. Wir zogen uns also zurück, doch kaum hatten wir einen neuen Platz zum Behandeln gefunden, kam die Polizei auch wieder näher. Weil ich nach den Anstrengungen des Tages und mit den 20 Kilo meines Rucksacks auf den Schultern nicht mehr gut rennen konnte, gerieten wir irgendwann hinter die Polizeiketten und folgten dem Geschehen zuletzt mit einigen hundert Metern Abstand.
Insgesamt handelte es sich um einen Tag, der bleibende Eindrücke hinterlässt. Zum einen wären da die Bilder von Kopfverletzungen, offenen Armen und Beinen und von Menschen, die fast bewusstlos an den Händen durch den Schlamm geschleift wurden. Dass es zur DNA der Polizei gehört, Kapitalinteressen auch gegen die Bevölkerung durchzusetzen, ist den meisten Menschen bewusst. Die Vehemenz, mit der dabei vorgegangen wurde, stellt allerdings eine Entwicklung dar. Andererseits bleibt die Beobachtung, dass trotz schlechten Wetters so viele Menschen kamen, dass sie es nur mit der Masse ihrer tausenden Körper fast geschafft hätten, die Polizei zu überwältigen, die mit Helikoptern, Pferden, Wasserwerfern und unzähligen Beamten zu Fuß alles aufgefahren hatte, was sie kriegen konnte. Außerdem konnten wir verzeichnen, von der Polizei in unserer Rolle als medizinische Versorgung anerkannt und nicht wie Teilnehmende behandelt zu werden. Dennoch bleibt es ein mulmiges Gefühl, als Sanitäter mit erhobenen Händen stillstehen zu müssen, wenn Polizei in der Nähe ist.
Text & Bild von Jan Urbanczyk