Unsere Autorin Vanessa hat das Graphic Novel “303” von Garth Ennis und Jacen Burrows gelesen und stellt sich nun einige Fragen zum Thema Russland, NATO und der Notwendigkeit von Kriegen.

Das Graphic Novel „303“ aus der Feder von Garth Ennis und illustriert von Jacen Burrows handelt von einer russischen Spezialeinheit des Militärs, die sich auf einer Mission zur Auskundschaftung eines abgestürzten US-amerikanischen Flugzeuges in einem Wettstreit mit britischen Truppen im afghanischen Bergland wiederfinden. Der Anführer der russischen Gruppe ist ein Oberst, der schon viele Kriege erlebt hat und dessen Weg durch das Bergland entsprechend von Geistern der vergangenen Kriege begleitet wird. Die Reise, die die Spezialeinheit antritt, wird eine Reise voller Gewalt und Verlust werden.

Das Graphic Novel erschien am 15. November 2022 im Dantes Verlag, kostet als Softcover Version mit 148 Seiten 19 und als limitierte Hardcover-Ausgabe 30 Euro. Es wird ab einem Alter von 18 Jahren empfohlen. Da das Graphic Novel nicht gerade gewaltfrei ist, finde ich diese Altersempfehlung absolut gerechtfertigt.

Softcover-Ausgabe; Bild: Dantes Verlag

Das Novel erzählt aus der Sicht des Oberst, ein vom Kampfe und Krieg gezeichneter Mann mit düsterem Gesichtsausdruck. Gegenüber der restlichen Gruppenmitglieder der Spezialeinheit verhält er sich eher wortkarg. Auf den ersten Seiten erfährt man gefühlt mehr über sein Gewehr als über den Mann selbst. Generell wird diese Thematik der Waffen immer wieder aufgegriffen, auch am Ende des Graphic Novels wird der Erzählstil der Einleitung wieder aufgenommen und von den Kriegen, die das Gewehr schon miterlebt hat, berichtet. 

Schnell wird deutlich, dass sich die russische Spezialeinheit auf einer bedeutenden Mission befindet: sie müssen zu einem US-amerikanischen Flugzeug gelangen, das im afghanischen Bergland abgestürzt ist, bevor die US-Truppen eintreffen, um die Maschine zu bergen. Und dann sind da auch noch die englischen Truppen, die scheinbar das gleiche Ziel verfolgen, wie die Gruppe um den Oberst: Aufdecken, warum die USA dieses Flugzeug unbedingt unbemerkt verschwinden lassen möchte. Was befindet sich in diesem Flugzeug?

Beeindruckend ist auch die Farbgestaltung des Graphic Novels, die während des Aufenthalts im Bergland durchgehend in Braun-, Grau- und leichten Blautönen gehalten ist. Das Geschehen ist irgendwann nach 2001 einzuordnen, aber definitiv nicht in der heutigen Zeit. Was sehr interessant ist, da es schon sehr klar mit den Konflikten zwischen Russland und den westlichen Ländern, vor allem in Bezug auf die NATO arbeitet. Mehrmals wird dieses Thema besonders als Gesprächsthema der Gruppenmitglieder der russischen Spezialeinheit aufgegriffen und ebenso als mutmaßlicher Grund, warum die Soldaten diese Mission überhaupt antreten sollen.

Generell ist mir während des Lesens aufgefallen, dass das Graphic Novel mit viel Gesellschaftskritik arbeitet. So wird der Oberst zum Beispiel in seinen Träumen von den Toten der Kriege heimgesucht, in denen er bereits gekämpft hat und von ihnen gefragt, welchen Sinn ihr Tod gehabt hat und für was sie eigentlich gestorben seien.

Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist eine Szene von einem Angriff auf ein unschuldiges Dorf im afghanischen Bergland, da die Illustration hier sehr stark war. Das Dorf wird von Flugzeugen bombardiert und wortwörtlich dem Erdboden gleichgemacht. Die Flugzeuge trugen die Aufschrift „Love Shack“ – irgendwie ironisch in Anbetracht ihrer Funktion. Die Bilder sind in dieser Szene sehr emotional und fokussieren auf die Gefühle einzelner Personen während des Angriffs, das erlebte Trauma und den Schmerz des Verlusts. Die russische Spezialeinheit beobachtet den Angriff und aus ihrer Unterhaltung wird offensichtlich, dass es sich um US-amerikanische Flugzeuge handeln muss. Persönlich finde ich es sehr interessant, eine Geschichte aus dieser Perspektive zu lesen und den Krieg nicht als eine Heldenreise dargestellt zu bekommen. Gleichzeitig lässt die Sichtweise des Oberst deutlich werden, dass diese Kriege das scheinbar einzige sind, das noch „Leben in ihn haucht“. Eine wirklich erschreckende Tatsache. Und gleichzeitig zeigt das wunderbar, wie sehr sich Menschen an einen Zustand gewöhnen und sogar abstumpfen können.

Es kommt am Wrack des abgestürzten Flugzeugs zu einem grausamen Kampf zwischen den englischen Truppen und der russischen Spezialeinheit, der allerdings schnell von eintreffenden US-amerikanischen Truppen gestoppt wird. Denn diese sind scheinbar einfach nur gekommen, um alles und jeden zu töten und keine Zeugen zu hinterlassen. Erneut: interessante Perspektive und Darstellung einer sonst oft positiv präsentierten Kriegspartei. Trotz diesem sehr blutigen und brutalen, ja schon unmenschlichen Moment, in dem man den Eindruck erhält, dass die Menschlichkeit zurückgelassen und lediglich Befehle ausgeführt werden, auch wenn das das Töten und regelrechte Abschlachten anderer Menschen bedeutet, wird in dieser grotesken Szene die Menschlichkeit hervorgehoben, in dem der Oberst einen überlebenden englischen Soldaten rettet. Gleichzeitig wird hier der Fokus auf ein Gewehr einer der russischen Soldaten gelegt, eine Lee-Enfield 303. Eventuell erklärt sich hier auch die Wahl des Titels des Graphic Novels, da der Oberst dieses Gewehr an sich nimmt und es im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder verwendet.

Ohne hier großartig spoilern zu wollen, in dem Flugzeug befand sich ein sehr wichtiges Dokument, das die USA in Kontext mit den Ereignissen des 11.09.2001 hochgradig belasten könnte und nun in den Händen des russischen Oberst ist. Wieder wird hier also nicht nur der Krieg kritisiert, sondern auch die USA als Kriegspartei.

Das Graphic Novel ist in zwei Teile unterteilt. Der erste Teil befasst sich mit der Mission im afghanischen Bergland und sehr kriegsbezogenen Themen. Der zweite Teil wirkt zuerst wie eine vollständig andere Geschichte mit anderen Charakteren in den USA. Er spielt in einem Dorf in einer sehr wüstenähnlichen Region in den USA. Der Ort ist scheinbar sehr weit südlich gelegen, mit vielen eingewanderten Personen aus Südamerika, die unter unmenschlichen Bedingungen in einer Fabrik arbeiten müssen, um ihr Überleben zu sichern. Erst nach ein wenig Erklärung zu dem Ort wird ersichtlich, dass der Oberst scheinbar in die USA geflohen ist und in eben diesem Dorf bei einem Arzt untergekommen ist, um sich von seinen Verletzungen zu erholen.

Ich muss ganz ehrlich anmerken, dass ich hier etwas Schwierigkeiten hatte, den Zusammenhang zwischen den beiden Teilen zu verstehen, auch wenn ich beide Teile vom erzählerischen Part und der generellen Gesellschaftskritik her immens spannend fand. Der zweite Teil widmet sich eher gesellschaftlichen Themen wie unfairen Arbeitsbedingungen, moderner Sklaverei, posttraumatischen Belastungen und dem Sozial- und Gesundheitssystem der USA. 

Alles in allem ist es ein sehr spannendes Graphic Novel mit schwierigen Themen, die in der aktuellen Zeit wieder sehr relevant sind. Allerdings lässt es sich nicht einfach mal so schnell durchlesen und ich hatte das Gefühl, dass ein bisschen Vorwissen unbedingt notwendig ist, um viele der Anspielungen zu verstehen. Obwohl mir beide Teile gut gefallen haben, finde ich den ersten Teil in seiner Gestaltung und Beschreibung etwas „runder“ und abgeschlossener, der zweite Teil hat mich etwas verwirrt und viele Fragen aufgeworfen, die zum Ende der Story nicht mehr erklärt werden.

Das Graphic Novel gibt es im Softcover und als limitierte Hardcover-Auflage im Online-Shop des Dantes Verlags. Auf der Website des Dantes Verlag findet ihr auch jeweils eine kurze Leseprobe.

von Vanessa Pohl

Beitragsbild : Vanessa Pohl

Bild im Text: Dantes Verlag