In Lucy Kirkwoods “Moskitos” trifft Familiendynamik auf Physik – in Bérénice Hebenstreits Inszenierung treffen sehr gute schauspielerische Leistungen auf Tragik und gut getimten Witz.

Heisenberg wird von der Polizei angehalten: Wissen Sie eigentlich, wie schnell sie waren? Nein Herr Kommissar, aber ich weiß wo ich war. Alice kringelt sich, Jenny versteht den Witz nicht.

20 Kippen am Tag, die roten, nicht light. So viele rauchte Karen während der Schwangerschaft mit ihren beiden Töchtern Jenny und Alice. Während Alice Physikerin am CERN in der Schweiz ist, kämpft sich Jenny durch den Alltag. Kaputte Beziehungen eint die beiden; während Jennys Beziehung mit Mike von Beginn nahezu aussichtslos ist und ihre Tochter kurz nach der Geburt stirbt, ist Alices Mann vor einigen Jahren spurlos verschwunden. Alices Sohn Luke, ein verhaltensauffälliger Jugendlicher, schlägt sich durch die Schule, in der er keine Freund:innen und kein gutes Verhältnis zu seinen Mitschüler:innen hat. Ständig wird die Ähnlichkeit Lukes mit seinem Vater betont, der ebenfalls hochrangiger Physiker ist. Dumm ist Luke nicht, im Gegenteil. Technisch höchst begabt hackt er zu Beginn des Stückes das Elternportal der Schule und am Ende des Stücks legt er mit einem Wurm das komplette CERN lahm.

Jenny (Julia Bartolome) mit Luke (Nicolas Frederick Djuren) (Foto: Konrad Fersterer).

Luke und Jenny verstehen sich so dermaßen schlecht, das Luke abhaut, während Jenny und Karen bei Alice zu Besuch sind und kein Lebenszeichen von sich gibt, bis er eines Tages wieder zurück in der Schweiz ist, in der Hoffnung, dass Jenny wie geplant abgereist ist. Es folgt ein kompletter Nervenzusammenbruch, auch weil Natalie, sein Crush, ihn ausgetrickst hat und ein Dick-Pic der gesamten Schule rumgeschickt hat.

Der neue Freund von Alice, Henri, ist ein so brachial höflicher Schweizer, dass es einem glatt die Löcher aus dem Emmentaler haut. Er kümmert sich freundlicher als die Töchter um Familienoberhaupt Karen und einen Versuch von Jenny, sich an ihn ran zu werfen moderiert er smart ab.

Stephanie Leue als Alice (Foto: Konrad Fersterer).

Die schauspielerische Leistung in „Moskitos“ unter der Regie von Bérénice Hebenstreit ist sehr zu loben, alle Darsteller:innen verkörpern ausgezeichnet ihre Figuren. Luke (Nicolas Frederick Djuren), der abgefuckte Außenseiter, der nichts will, außer dass seine Mutter ihm mal zuhört und dafür ihren Arbeitsplatz hackt erzeugt entsprechendes Mitleid. Familienoberhaupt Karen sieht man förmlich den fortschreitenden Verfall des Alters an, Demenz und Inkontinenz lassen selbst die größte Physikerin einknicken. Annette Büschelberger spielt die durchaus rüstige und sexuell sehr aufgeschlossene Großmutter hervorragend und lässt das Leiden des Alters deutlich spüren.

Die Protagonistinnen Alice (Stephanie Leue) und Jenny (Julia Bartolome) verstehen sich eigentlich gar nicht gut, aber halten um jeden Preis zusammen. Leue und Bartolome spielen diesen Konflikt auf mehreren Ebenen hervorragend aus und wechseln blitzschnell zwischen den Gemütern ihrer Personen.

Jenny (Julia Bartolome) und Karen (Annette Büschelberger) (Foto: Konrad Fersterer).

Natalie (Elina Schkolnik) und Henri (Amadeus Köhli), beide sozusagen „für die Liebe“ im Stück, treten ebenfalls cool und authentisch auf, wenngleich sie auch komplett unterschiedlicher Natur sind. Schkolnik spielt die noch unerfahrene Schülerin, die zwar einen Freundeskreis hat, der von außen hin aber auch ganz schön problematisch ist, aber doch irgendwie das einzige soziale Netz ist, was sie hält. Im Gegenteil hierzu die smarte Rolle von Köhli, der stets gekonnt spontan den Witz der Situation verkörpert und einen lupenreinen Eindruck hinterlässt.

Untermalt wird das Stück gelegentlich von dem „Boson“ (ein Teilchen in der Physik), das immer wieder physikalische Hintergründe laienverständlich darstellt und in dramatischen Momenten in einem skurrilem Ganzkörper-Fell-Kostüm auftritt. Thomas Nunner spielt neben dem Boson auch noch in einer Nebenrolle den Hausmeister, der etwas aufwischt und erklärt dort erfrischend die 5 möglichen Weltuntergangsszenarien.

Thomas Nunner als apokalypsenbewanderter Hausmeister (Foto: Konrad Fersterer).

„Moskitos“, geschrieben von Lucy Kirkwood, ist ein modernes Theater, was mit den Themen CERN und Kernphysik ein ziemlich unromantisches Fachgebiet abdeckt. Die Geschichte rund um die zerrütteten Familienverhältnisse und die Liebe von Alice zur Physik passen jedoch hervorragend zusammen und machen das Stück zu einem tragischen, was aber mit viel sehr gut getimtem Witz auftrumpfen kann. Manche Boomer-Jokes sind zwar für die Handlung unbedingt erforderlich, holen aber das Publikum ab. Die Handlung ist in der ersten Hälfte sehr stark und führt gut verständlich in den gesamten Plot ein, doch leider ist das Ende des Stücks etwas schnell und zu einfach herbei geführt, hier ist die Handlung nicht mehr ganz so schlüssig. Luke kommt ohne Konsequenzen davon, obwohl er die größte Maschine der Welt lahmgelegt hat und Jenny, welche die Tat auf sich nimmt, darf ebenfalls ohne Probleme wieder in die Heimat nach England reisen, hier wird sich das Ende wesentlich zu einfach gemacht und einfach das Stück beendet, ohne die Story klug abzuschließen.

“Moskitos” von Lucy Kirkwood

am Staatstheater Nürnberg

Regie: Bérénice Hebenstreit

Bühne: Mira König

Kostüme: Annelies Vanlaere

Dramaturgie: Klaus Missbach

Musik: Gilbert Handler

Lichtdesign: Günther Schweikart

Besetzung: Stephanie Leue, Julia Bartolome, Thomas Nummer, Nicolas Frederick Djuren, Elina Schkolnik, Annette Büschelberger, Amadeus Köhli

Von Henrik Hösch

Beitragsbild & Bilder im Text: Konrad Fersterer