In Bars passieren die seltsamsten Dinge, manchmal losgelöst von Zeit, manchmal fest in ihr verankert – so auch hier in einem Auszug aus Elsas Kurzgeschichte “Ohne Problem”.

Abends saß ich dann oft in schrulligen Bars herum, trank ein, zwei Dinge und ließ mich selbst schleifen. Das konnte ich wirklich prima. Die Dinge einfach auf sich zukommen lassen, sagen die Optimisten dazu.

Ich bestellte mir noch einen Gin, er kam sofort, und kleine Pfefferkörner schwappten gegen das Glas. Mir war langweilig, die Lüftung surrte extrem laut und die schlechte Musik, die lief, versuchte es nicht mal ansatzweise das Geräusch zu übertönen. Ich kratzte ein bisschen Dreck von der Theke und aß noch ein paar Erdnüsse, die vor mir in einer kleinen Glasschale standen. Sie waren zu salzig. Jemand hatte sie nachträglich gewürzt. Unnötigerweise. Jemand kam herein, eine Frau in einem engen Kleid. Sie trug Cowboy Boots und hatte eine kleine Wampe. Niemand sah jemals so fertig aus, wie sie, ich schwöre es. Sie setzte sich auch an die Theke, bestellte einen

Jacki Cola bitte

und bekam ihn aufs Haus. Diese Frau war anscheinend öfters hier. Ich fand sie direkt sympathisch und wusste nicht genau wie ich sie ansprechen sollte. Ich schielte öfters zu ihr herüber und sie schien so, als würde sie rein gar nichts interessieren. Sie fing an, ihren Nagellack abzukratzen, die kleinen Fetzen landeten auf der Theke und als alles abgekratzt war, begann sie, ihre Fingernägel abzukauen. Eklig sah das aus, also schaute ich weg. Aber irgendetwas an dieser Frau faszinierte mich, also drehte ich mich doch wieder in ihre Richtung und genau in diesem Moment schaute sie mich an. Ihre Augen waren rot, sie wirkte high. Ihr Mund öffnete sich sehr langsam und zum Vorschein kamen extrem schiefe und gelbe Zähne, ein Lächeln, das war ein Lächeln, was sie mir zuwarf und ich fing es dankbar auf. Also setzte sie sich in Bewegung, mit der Wampe voran wankte sie auf mich zu und blieb dann verloren vor mir stehen. Ich reichte ihr eine Hand und sie ergriff sie und dann passierte lange nichts. Im Film hätte man diesen Moment als unangenehm beschrieben, da die Szene eindeutig zu lang war, die Schauende wurde ungeduldig und wunderte sich darüber, warum diese Szene jetzt so viel Zeit wert war. Verstehen tat ich es auch nicht, aber ihre warme Hand in meiner war ein angenehmes Gefühl und ich hätte sie auch noch länger gehalten, wenn sie nicht auf einmal umgekippt wäre. Ganz gerade kippte sie, immer noch mit einem unglaublich bekloppten Lächeln im Gesicht, einfach so nach hinten. Als ihr Körper auf dem Boden aufkam gab es ein knackendes Geräusch, alle versoffenen Menschen drehten sich zu ihr um, ihre Augen wanderten zwischen ihr und mir hin und her. Und dann, als wäre das alles gerade nicht wirklich passiert, wandten sie sich wieder ab und ihrer eigenen Einsamkeit wieder zu. Ich war anscheinend verantwortlich für diese Frau, die jetzt mit offenen Augen am Boden lag. Nie schien mir eine Aufgabe sinnvoller zu sein. Diese Frau brauchte mich, und wenn ich es nicht tat, machte es keine und sie würde dort liegen bleiben und kein Leben mehr haben. Ich glitt hinunter von meinem Barhocker und kniete mich neben sie. Langsam rüttelte ich ihren Arm, das half nichts, also holte ich aus, um ihr eine runterzuhauen, als mein Arm am höchsten Punkt angelangt war, ergriff ihn jemand. Ich drehte mich verdutzt um, welches Arschloch ließ mich diese Frau nicht schlagen. Ein junger Mann, nicht älter als ich, blickte mich an. Ich versank in seinen Augen und grub mich dann durch seinen ganzen Körper durch, nur um dann wieder ausgeschissen zu werden.

Was willst du hier?

Seine Stimme war dunkel, sehr tief, sie passte überhaupt nicht zu ihm und reden würde ich eh nicht mit ihm, ich wackelte mit meinem Arm hin und her, er sollte ihn doch bitte loslassen. Sein Griff wurde enger, er schüttelte den Kopf. Ich schaute die Frau an, ihre Augen starrten an die Decke, immer noch offen, war die etwa Meisterin im Starr-Contest? Oder war sie tatsächlich tot? Ging das so schnell, kniete ich neben einer Toten? Ich drehte mich wieder zu dem jungen Mann. Sein Gesicht war verhärtet, dann ließ er meinen Arm los. Er schnallte auf dem Boden auf und ich brach mir das Handgelenk. Das tat gar nicht so doll weh, wie ich vermutete hatte. Tränen stießen mir in die Augen, ich schluckte und schluckte und in meinem Hals bildete sich ein Kloß, der sich nach zuhause anfühlte. Der junge Mann stand noch immer neben mir. Seine Haare waren fettig und Schmalzlocken hingen ihm in die Stirn, er sah etwas eklig aus, dachte ich noch, dann kniete er sich auf einmal neben mich und ein Wimmern ertönte. So laut, und so traurig hatte ich das noch nie gehört. Ich war es nicht gewohnt, Menschen zu sehen, die in der Öffentlichkeit weinten. War das irgendwer gewohnt? Wir waren nicht mehr gewohnt, alle Emotionen zu sehen, die wir fähig waren zu produzieren. Wir, die Menschen. Der junge Mann warf sich jetzt über die Frau am Boden und heulte und seine Tränen liefen ihm über die Wangen, hinab zum Kinn auf die Brust der Frau. Ihre Augen starrten immer noch in die gleiche Richtung wie zuvor. Sie war tot. Eine Fliege landete auf ihrem Auge und rieb sich die Hände. Die schlechte Musik lief immer noch, niemanden schien es zu interessieren. Und da war ich mir sicher, dass sie hier liegen bleiben würde, so lange, bis ich sie raustragen würde. Ich tippte den Mann an. Erst vorsichtig, dann immer stärker. Er reagierte nicht. Mein Handgelenk stach, ein heißer Schmerz durchzog mich. Ich biss mir erst auf meine Zunge, als das nichts half, auf meine Unterlippe. Verdammt nochmal. Ich versuchte aufzustehen, und sackte wieder ab. Ich war besoffen. Aber so viel hatte ich doch gar nicht getrunken? Vielleicht hatte mir jemand irgendeinen Scheiß ins Getränk gemischt.

Och ne

Dachte ich, und merkte, dass ich es laut aussprach. Der junge Mann hörte jetzt auf zu wimmern, sein Oberkörper machte sich lang und gerade, er saß jetzt aufrecht und schaute mich an. Dann gab er mir die Hand, und ich gab ihm die linke.

Freut mich

Schniefte er und ich nickte. Was sollte ich dazu schon sagen?

Hast du sie gekannt, meine Mutter?

Ich schluckte, what the fuck – das war seine Mutter? Der Typ hat gerade seine Mutter gesehen, wie sie gestorben ist, in einer der ranzigsten Bars, die ich in meinem Leben gesehen habe. Scheiße. Das ist hart.

Nein. Aber ich hatte das Gefühl, dass sie eine gute Seele war.

Hörte ich mich sagen, und wollte dabei anscheinend so klingen, wie der Eisladenbesitzer. Ich legte ihm meinen Arm um die Schulter, um Empathie zu zeigen, aber auch, um mein Handgelenk etwas zu entlasten. Er nahm es dankend an, diese merkwürdige Umarmung und drückte mein kaputtes Handgelenk. Ich machte quietschende Geräusche und atmete dann ganz langsam aus. Der Schmerz war echt erträglich, gar nicht so schlimm, würde jemand sagen, der optimistisch war. Ich würde sagen, fick dich und die Person mit einem Lächeln bestrafen. Menschen können so gemein sein. Jaja, ich weiß, ich weiß. Achso, und wie war das jetzt nochmal? Ich würde ihm helfen müssen seine tote Mutter in dem engen Kleid mit der Wampe aus diesem Drecksloch zu schaffen. Ich würde ihm bei der Beerdigung helfen, die Kerzen anzünden, ein Lied singen, seine Hand halten und ihm dabei zuschauen, wie er dabei zuschauen würde, wie seine Mutter langsam eins mit der Erde werden würde. Wir würden beste Freunde werden. Ich blinzelte mit den Augen und fand mich auf dem Klo vom Pub wieder. Überall Schmierereien an den Wänden, ich las sie immer alle durch. Viele Liebesgeständnisse, oder auch Hassparaden. Amy ist eine Fotze, stand da in pinker Schreibschrift. Darunter stand, HDGGGGGGDL Moritz mit einem Datum, das schon über zehn Jahre her war. Wer wohl dieser Moritz war? Der wurde richtig arg gemocht. Zumindest vor zehn Jahren noch. Ich schloss die Klotür auf, eins dieser blöden Plastikdrehdinger, und stand vor einem versifften Waschbecken, Wasserhahn an, braune Soße raus. Naja, dann erstmal keine Hände waschen. Wieder raus, erinnern was da auf dem Boden lag und bedauern, dass ich hier war .

Den Gin Tonic kippen, den Jacki Cola kippen. Hose hochziehen, Rotze hochziehen, Handgelenk knacken lassen (das gesunde, nicht das kaputte) und dann auf drei diese dicke Lady hochhieven. Raus auf die Straße, schön draußen, Krankenwagen rufen. Polizei rufen? Polizei rufen! Im Krankenhaus Kaffee aus dem Automaten ziehen und langsam trinken. Auf Stühlen mit blauen Polstern sitzen. Diese Stühle sind aber auch scheiße unbequem. Rausgehen, eine rauchen. Reingehen, hinsetzen, aufstehen, angucken. Kaffee trinken, rausgehen, rauchen. Gesagt bekommen, dass sie tot ist. Heulen (nicht ich, sondern der junge Mann) – auf den Boden werfen und heulen. Im Krankenhausflur stehen und auf den Boden schauen, wo der junge Mann zusammengekrümmt liegt und heult. Rücken vom Arzt sehen, wie der langsam den Flur wegwatschelt. Lachen, weil es so scheiße aussieht. Bösen Blick bekommen von fremden Leuten, die auf Stühlen sitzen, die mit blauem Stoff überzogen sind. Angerempelt werden. Wieder da sein.

Ich kniete mich neben ihm auf den Boden, der erstaunlich warm war. Meine Hand fuhr über seinen Rücken, sein T-Shirt fühlte sich gut an, das war ganz weich. Sein Rücken war sehr knöchern, ich konnte jeden Wirbel spüren. Er schaukelte hin und her, dann warf er sich auf die Seite, in meinen Schoß. Oder so gut es eben ging, er war ja viel größer als ich. Ich fasste mir selbst ins Auge, das tat weh. So doll, dass ich auch ein bisschen weinen musste. So hatte der große Mann in meinem Schoß ein bisschen Gesellschaft. Er fühlte sich jetzt sicherlich nicht mehr so alleine. Was wohl jetzt mit seiner toten Mutter passieren würde? Würden die einen roten Teppich ausrollen und sie, wie eine Eisprinzessin gekleidet, auf einem Krankenhausbett gebettet, nach draußen fahren? Würde es Sekt und Champagner, oder zumindest eins von beidem geben? Würden sich dann alle betrinken und irgendwann ihre scheiß langweiligen Kittel ausziehen? Würden sie darunter aussehen wie Katy Perry in einem ihrer Musikvideos? Mit Glitzerkleid, Perücke, blauem Lippenstift und so weiter? Das fände ich schön. Diese Gedanken wanderten durch meinen Kopf, während ich den Kopf von dem Mann in meinem Schoß streichelte und leise beruhigende Sch-Murmeleien von mir gab. Ich glaube wir saßen so eine ganze Weile da. Niemanden schien es zu stören. Manchmal liefen Menschen um uns herum, stiegen über uns rüber, tippten mich ein bisschen an, baten mich ein Stück zu rutschen, da ich aus Versehen auf einer Socke saß. Die hatte ich wohl jemandem gekonnt ausgezogen, ohne es selbst zu merken. Vielleicht sollte ich Taschendiebin werden? Ich würde einfach immer nur aus Versehen etwas mitnehmen, ohne es selbst wirklich mitzubekommen. So brauchte ich auch nicht zu lügen, wenn ich erwischt werden sollte. Mann, war das ein Leben. Der Kopf in meinem Schoß reckte sich jetzt ein bisschen und zwei Augen in einem traurigen Gesicht schauten mich an. Fast schon fragend. Was wollte er? Hatte ich nicht schon alles, und noch viel mehr für ihn getan? Oder war ich einfach ein Scheiß-Mensch, der nicht gerne Dinge für andere Menschen tat? Mein Finger zeigte jetzt zum Kaffeeautomaten und das traurige Gesicht nickte. Ich schob ihn also zu Seite, seinen Kopf, seine Traurigkeit, alles. Er machte mir Platz, rückte jetzt selbst etwas von mir ab und ließ mir Raum zum Sein. Der Kaffeeautomat freute sich auf Gesellschaft und lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Ich war froh um jedes bisschen Glück, das ich kriegen konnte. Wie geht das Sprichwort nochmal – Glück liegt nicht auf den Straßen! Oder so? Ich drückte den obersten Knopf und der Automat fing an, mir einen leckeren schwarzen Kaffee zuzubereiten. Ein paar Geräusche gab er dabei auch von sich, und es wirkte fast ein bisschen so, als würde es ihm schwerfallen. Alles. Der Plastikbecher mit der braunen Brühe drin steckte in dem Halter Ding und ich drückte ihn oben ein wenig zusammen und zog ihn aus der Halterung. Der Automat machte ein dankbares Geräusch. Ich nickte ihm zu, und wandte mich von ihm ab. Der Mann mit dem traurigen Gesicht, dessen Namen ich immer noch nicht kannte – Wow, krass! Ich rette ihn und seine Mum vor einer Beerdigung in einer ranzigen Bar und ich kenne noch nicht mal seinen Namen, sollte das mal ändern. Sollte ihn fragen, wie er heißt. Am besten jetzt. Bevor ich es vergesse. Oder er.

Ich heiße Winston.

(Winston? Was war das für ein Name bitte?)

Cooler Name. Ich bin Me.

Wird das Me oder Mi geschrieben?

Mit e.

Und dann fing der Kerl wieder an zu heulen und Rotz kam aus seiner Nase und ich verdrehte ein bisschen die Augen, weil ich mir vorkam, wie in einem schlechten Film. Nur dass es eben kein Film war, sondern mein eigenes Leben. Ich setzte mich neben ihn auf einen der Stühle mit der hässlichen blauen Polsterung und legte meine Hand (mit dem kaputten Handgelenk) auf seinen Rücken und fuhr mechanisch auf und ab. Das soll ja eine beruhigende Wirkung auf einen haben. Habe ich mal irgendwo gelesen. Mein Handgelenk knackte. Vielleicht sollten die sich auch mal mich anschauen? Vor allen Dingen mein Handgelenk, aber auch mich. Meine Psyche, meine ich. Oder ich sollte mir einfach eine Mullbinde schnappen, die ein paar Mal rumwickeln und so tun, als wäre nie irgendwas gewesen. So wie immer. Winston bekam ein Taschentuch von einer älteren Frau gereicht, er schnäuzte seinen ekligen Rotz darein und knüllte es dann zusammen. Weinte noch ein bisschen. Und wischte sich dann, mit dem Taschentuch mit dem Rotz drin, die Tränen weg. Aber die kamen wieder und Winston hatte keine Kraft mehr nochmal drüber zu wischen. Deshalb sah sein Gesicht jetzt ganz nass aus. Ich bemerkte, dass ich noch immer den Plastikbecher mit dem Kaffee in der Hand hielt und reichte ihm das Ding. Er nahm es entgegen. Seine traurigen Augen schauten mich kurz an, dann heulte er wieder los. Viel Zeit zum Reden hatten wir ja noch nicht gehabt. Ich hätte eigentlich sehr viel Lust gehabt, einfach noch weiter zu reisen. Ganz viel zu sehen. Nur halt nicht mehr alleine. Und vielleicht hätte Winston ja auch Lust auf sowas, wer weiß? Ein bisschen Ablenkung tat ihm sicher gut. Ich versprach mir selbst, ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu fragen, ob er es sich vorstellen könnte, mit mir ein bisschen durch die Weltgeschichte zu tuckern. Vielleicht sollte ich auch noch einmal darüber nachdenken, wie ich es nicht so Oma-mäßig ausdrücken könnte. Winston kippte den Kaffee. Zwei, drei Schlucke maximal und der Inhalt aus dem Becher war verschwunden.

Warum schmeckt der eigentlich immer so scheiße?

Weil es verlässlich ist. Glaube ich.

von Elsa Krauß