– im Inneren Russlands lauert Unabhängigkeit
Russlands grausames Verhalten gegenüber der Ukraine schockiert die Welt. Doch das ukrainische Volk ist nicht das Einzige, was unter russischem Imperialismus leidet. Ist der Zerfall des Landes bald in Sicht?
Der griechische Geschichtsschreiber Thukydides schrieb einst in einer seiner Schriften: „Die Geschichte ist eine ewige Wiederholung.“ Erstaunlich an diesem Zitat ist, obwohl es bereits 2000 Jahre alt zählt, hat es sich bewahrheitet. Und so findet man beim Betrachten der Weltgeschichte stets wiederkehrende Verhaltensmuster. Eines dieser regelmäßig erscheinenden Phänomene der Geschichte ist der Imperialismus. Das Römische Reich, das Osmanische Reich, das Commonwealth. Sie alle repräsentieren das tief im Menschen verwurzelte Verlangen nach Macht. Während die westlichen Nationen nach den Weltkriegen sich von der Idee des Imperialismus abzuwenden begannen und man stattdessen Wert auf die Selbstbestimmung der Völker legte, repräsentiert Russland als größtes Land der Erde bis heute die kulturelle, politische sowie wirtschaftliche Unterdrückung anderer Bevölkerungsgruppen.
Mit seinen 17 Millionen Quadratkilometern vereint es durch militärische Eroberung seit Jahrhunderten unter Zwang Menschen, die weder kulturell, religiös oder in ihrer Sprache ursprünglich übereinstimmen. Neben den „eigentlichen“ Russen/innen leben auf dem Gebiet des Landes nahezu 100! andere Ethnien, welche gegenüber dem russischen Volk jedoch mittlerweile Minderheiten darstellen. Zu den größten unterdrückten Bevölkerungsgruppen zählen die Tataren, die Ukrainer, die Armenier , die Tschuwaschen und die Baschkiren. Russland ist also nicht gleich Russland. Während beispielsweise in Moskau und St. Petersburg die christlich- orthodoxe Kirche vorherrscht, sind die Republiken Dagestan, Baschkortostan oder Tatarstan moslimisch geprägt. Und während die Menschen in Tschuwaschien ursprünglich Tschuwaschisch, eine Turksprache, sprechen, ist das in Mordwinien traditionell gesprochene Mordwinisch finnougrisch.
Mit Hilfe des russischen übertriebenen Patriotismus und vor allem dem Aufzwingen der russischen Sprache versucht man, die Völker unter Russland zu stellen. Doch obwohl die meisten heutigen russischen Gebiete bereits unter Zar Iwan IV. im 17. Jahrhundert erobert wurden, schlagen die Herzen der unterdrückten Nationen weiterhin in einem anderen Takt. Die Menschen haben sich ihre Territorien nehmen lassen, aber nicht ihre Identität. Ihr Drang nach Freiheit flammt dadurch immer wieder auf. Regelmäßig finden neue Referenden, Proteste sowie Souveränitätsbekundungen statt.
So erklärte sich Tatarstan bereits mehrmals als unabhängig (1917, 1991, 2008), in Sibirien kam es 2011 sowie 2014 zu Protesten mit separatistischem Charakter und Tschetschenien ging noch ein Schritt weiter und führte, wie bereits bekannt, 1999 bis 2009 Krieg – um nur einige Beispiele zu nennen. Bereits mit dem Zerfall der UdSSR sagten sich Sibirien, der Ural, Karelien und Tatarstan von Moskau los. Jelzin vertröstete die Gebiete damals durch den Vorschlag der Gründung einer Föderation und versprach ihnen mit der Schaffung von Republiken weiterhin große Souveränität in Form eigener Verfassungen, eigenem Budget und eigenen Regierungschefs. Doch unter Putin wurde diese Unabhängigkeit mit der Zeit immer weiter reduziert. Zuletzt im Januar 2023: Tatarstan war bisher die einzige Republik, deren Regierungschef weiterhin den Titel „Präsident“ trug. Andere Republiken besitzen bereits seit der Verfassungsreform 2020 nur noch sogenannte „Oberhäupter“ und haben sich damit das letzte Stück formelle Freiheit, an das sie sich klammerten, nehmen lassen. Am Anfang des Jahres drängte Putin schließlich auch Tatarstan dazu, die eigene Verfassung zu revidieren. Statt einem „Präsidenten“ regiert in der tatarischen Republik ab sofort ein „Rais“ (arabisch). Denn in dem großen russischen Reich ist nun mal ausschließlich Platz für einen „Präsidenten“ – Putin selbst. Machen wir uns nichts vor, Russland ist nur noch eine Föderation zum Schein und die einst selbständigen Republiken wie Tatarstan oder Dagestan sind mittlerweile nichts weiter als normale russische Gebiete.
Völkerrecht? Selbstbestimmung? Unabhängigkeit? – diese Wörter scheinen im russischen Wortschatz nicht zu existieren. Und mit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland erneut bewiesen, dass es sich kein Stück in seiner Denkweise geändert hat. Es scheint fast so, als wäre dies das einzige, worüber sich das Land definiert – über Machtausübung und ein übertriebenes realitätsfernes Überlegenheitsgefühl, was der in jüngster Zeit auf Kundgebungen oft geschriene und aus einer Militärhymne stammende Ausruf „Wir sind Russen – Gott ist mit uns“ zeigte. Der Kreml ist nicht dumm – geschickt lenkt er durch diesen neu aufgelebten Imperialismus von dem Mangel an Demokratie und dem wirtschaftlichen Versagen im Inneren des Landes ab.
Doch indem man diesen Expansionsgedanken wieder entfachte, erweckte man gleichzeitig Unabhängigkeitsbewegungen aus dem Schlaf. Denn der Krieg gegen die Ukraine erinnert die anderen unterdrückten Völker daran, dass auch ihnen Unrecht getan wurde. Verstärkt wird der Hass gegen die russischen Repressoren zusätzlich dadurch, dass Putin zu Beginn des Krieges vor allem Soldaten aus den Gebieten der ethnischen Minderheiten wie Tschetschenien rekrutierte. Viele junge Männer haben sich sicherlich wütend gefragt, warum sie für ein Land in den Krieg ziehen und ihr Leben riskieren sollen, zu dem sie sich nicht einmal zugehörig fühlen. Warum sich also weiterhin unter den Kreml stellen?
Vor allem auch wirtschaftlich bringt die Föderation schon lang keine Vorteile mehr. Seit Jahren sammelt sich das Geld auf den Konten einer kleinen Elite von Ex- KGBlern, hauptsächlich aus St. Petersburg. Die Provinzen gehen indessen leer aus, von dem Reichtum durch Russlands Bodenschätzen haben sie nichts. Statt steigenden Umsatzzahlen – steigende Todeszahlen. Mangelnde Demokratie, Korruption, Krieg. Das ist alles, was Putin seinen Republiken momentan bieten kann. Keine verlockenden Aussichten. Da stellt sich natürlich die Frage, ob man allein nicht besser dran wäre.
Einschätzung der Autorin:
Russland befindet sich daher in einer Identitätskrise. Es fehlt an einer Legitimation bzw. Vorteilen, die die verschiedenen Menschen trotz ihrer unterschiedlichen Ethnien, Sprachen und Religionen, als eine Nation verbindet und zusammenhält. Beispielsweise die Verteilung von Gütern und damit verbundener Wohlstand oder die Sicherstellung von Frieden. Putin hat mit dem krampfhaften Versuch, Imperialismus und propagierten Hass auf den Westen dazu zu verwenden, aber definitiv auf das falsche Pferd gesetzt. Denn scheint er zu vergessen, dass wir nicht mehr im 19. oder 20. Jahrhundert leben. Es gibt keine großen Imperien mehr und klassische Angriffskriege gehören eigentlich nur noch in die Geschichtsbücher. Die Welt um ihn herum hat sich verändert und das kann er auch nicht vor den Menschen seines Landes verborgen halten. Zumal andere Nationen in direkter Nachbarschaft wie Kasachstan oder Usbekistan die Lossagung im Zuge des Untergangs der UdSSR bereits vorgemacht haben.
Es bleibt spannend zu beobachten, wie weit die neu aufgeklungenen Unabhängigkeitsbewegungen gehen werden. Wird Russland der UdSSR ins Grab folgen und implodieren? Kein unmöglicher Gedanke. Und auch wenn die staatliche Repression es Aktivisten schwer macht, so zeigt die Geschichte, Freiheit findet meist ihren Weg. Man denke nur an die Friedliche Revolution und den Fall der Mauer. So findet man zum Beispiel russische Telegram- Kanäle, die die Unabhängigkeit propagieren. Des Weiteren entstand 2022 eine sozial-politische Plattform namens „FREE NATIONS LEAGUE“, welche laut eigenen Angaben „eine breite antiimperiale Bewegung [ist], die nationale, gesellschaftspolitische und zivile Organisationen vereint, die sich für die Souveränität der Völker und Gebiete in der Russischen Föderation einsetzen“. Fakt ist, im Inneren des Landes brodelt eine Flamme und es ist nur eine Frage der Zeit bis diese sich entfacht. Putin sieht im Westen und der NATO seine größte Bedrohung. Doch was Russland, das letzte große Imperium unserer Zeit, viel wahrscheinlicher zum Fall bringen wird, ist Russland selbst. Und um einen weiteren klugen Mann wie Thukydides zu zitieren, so schrieb Schiller bereits 1804 in seinem berühmten Werk „Wilhelm Tell“: „Russland kann nur durch Russland überwunden werden“.
von Elisabeth Buhlés
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