Die studierte Chemikerin Olivia zieht von Santiago de Compostela nach Deutschland und hat in ihrem Gebäck glorreiche Träume für ihre Zukunft. In Deutschland erwartet sie jedoch nur eine Arbeit als Reinigungsfachkraft in der Rechtsmedizin. Nach einem mysteriösen Suizid eines Jungen begibt sich Olivia auf Detektivarbeit.
Das Dramaturgin Christine Haas ein Fan des Tanz- und Musiktheaters ist, ist seit einigen Stücken wie „How to Date a Feminist“ bereits klar. Auch im neuen Stück „Schmetterlinge“ des Gostner Hoftheaters spielt nonverbale Kommunikation eine zentrale Rolle. Durch passend unterlegte Musik und immer wiederkehrende Tanzeinlagen transportiert sich das geschriebene Wort der Romanvorlage von Anna R. Figueiredo auf die Bühne.
Von Links: Emma (Andrea Hintermaier), Olivia (Johanna Steinhauser), Lisa (Christin Wehner), Samuel (Burak Uzun) Foto: Ali Al-Zubaidi
Die Handlung des Stücks ist überschaubar. Die junge studierte Biologin Olivia (Johanna Steinhauser) verlässt ihre Heimat Santiago de Compostela mit dem Ziel, sich eine Existenz in Deutschland aufzubauen. Hier erwartet sie jedoch nur die Realität für viele aus dem Ausland emigrierte Bewohner*innen: Statt einer gut bezahlten Stelle in ihrem studierten Fachbereich wartet auf sie in Deutschland nur die Tätigkeit als Reinigungsfachkraft.
Olivia findet Arbeit bei Lisa (Christin Wehner) in der Rechtsmedizin. Schnell entwickelt sich zwischen den beiden Frauen eine Freundschaft. Doch diese Freundschaft hat Grenzen: Beide Frauen sind akademisch ausgebildet und ihre Studiengebiete von Biologie und Rechtsmedizin überschneiden sich in vielen Bereichen. Hierarchisch stehen beide Frauen jedoch nicht auf der gleichen Ebene. Aufgrund Olivias Herkunft geht sie am Ende einer Obduktion nicht wie ihre Chefin nach Hause, sondern bekommt den Besen in die Hand gedrückt. Trotz ihrer fachlichen Kompetenz ist nicht sie es, die den Angehörigen der Toten die mechanischen Prozesse des Todes erklärt, sondern hinter verschlossenen Türen das Labor reinigt. In ihrer Freundschaft ist beiden Frauen bewusst, dass sie sich nicht gleichberechtigt gegenüberstehen, sondern eine durch ihre Herkunft zahlreiche Privilegien innehat, von denen die Andere nur träumen kann.
Olivia (Johanna Steinhauser) und Lisa (Christin Wehner) Foto: Ali Al-Zubaidi
Olivia trifft bei einem Besuch im Museum einen jungen Mann namens Samuel (Burak Uzun). Kurze Zeit später liegt er tot bei Lisa auf dem Untersuchungstisch. Suizid wird als Todesursache angegeben. Doch Olivia vertraut den Berichten der Obduktion nicht und begibt sich selbst auf Detektivarbeit. Hier stößt sie unteranderem auf verborgene Familiengeheimnisse, die Samuels Mutter betreffen. Vor dem Tod ihres Sohnes war Emma (Andrea Hintermaier) eine gescheiterte Schauspielerin, deren Glanzzeiten lange vorbei waren. Samuels Suizid katapultiert sie über Nacht wieder ins Rampenlicht und sie macht sich ihren neu gewonnen Ruhm zu Nutze. Statt am Grab ihres Sohnes zu trauern, nimmt sie Instagram Videos auf, um unter gespielten Tränen sich für die zahlreichen Beileidsbekundungen zu bedanken. Samuel rückt immer weiter in den Hintergrund und Emmas Stärke und ihr Durchhaltevermögen stehen im Fokus. Die Szenen, in der Emma öffentlich über ihren Sohn „trauert“, rufen Fragen über den Umgang mit privaten Themen in den Sozialen Medien hervor. Sollte so etwas persönliches wie die Trauer um den Verlust des eigenen Sohnes ins Internet gestellt werden? Für Emma ist die Antwort ganz klar: JA! Der Suizid ihres Sohnes dient als prima Clickbait und die Zahl ihrer Follower*innen verdoppelt sich seit seinem Tod stündlich. In Anbetracht der jüngsten Tendenzen in den Sozialen Medien thematisiert das Gostner Hoftheater mal wieder eine hochaktuelle Debatte. Familienvlogger*innen, die ihre Kinder von klein auf in die Kamera halten und die intimsten Details preisgeben, und Influencer*innen, die gezielt in Videos weinen und ihre Zuschauer*innen am ganzen Prozess einer Trennung teilhaben lassen, stehen schon länger in Kritik. Auch hier herrscht der Vorwurf, die eigenen Kinder oder die eigene Trauer nur als Clickbait zu verwenden.
Das Besondere an den gezeigten Stücken am Gostner Hoftheater ist die Art und Weise, wie Kritik an der Gesellschaft und den weltlichen Strukturen geübt wird. Statt die Probleme der bestehenden sozialen Strukturen zum Hauptthema zu machen, werden diese subtil in Dialogen angesprochen und so thematisiert. Das Gostner ruft somit gezielt zum Mit- und Nachdenken auf, da eben nicht direkt Lösungen für Probleme vorgegeben werden. Über keine Stücke tausche ich mich danach so intensiv aus, wie nach einem Besuch im Gostner Hoftheater. Viele Szenen sind mehrdeutig und lassen viele verschiedene Interpretationsweisen zu und oft fallen mir erst viele Stunden später weitere Besonderheiten am Bühnenbild oder den Dialogen auf.
Findet selbst heraus, was es mit den Schmetterlingen am Gostner Hoftheater auf sich hat und welche mysteriösen Begleitumstände den Tod von Samuel umgeben!
„Schmetterlinge” am Gostner Hoftheater in Nürnberg
Basierend auf dem Roman “Os bicos feridos“ von Anna R. Figueiredo
Dramaturgie: Christine Haas
Assistenz: Robin Braun
Regie: Gonçalo Guerreiro, María Torres
Bühne und Kostüm: Gonçalo Guerreiro, María Torres
Technische Einrichtung: Felix Bogner, Roxan Vallee, Julian Wiech, Jörg Zysik
Darsteller*innen: Andrea Hintermaier, Johanna Steinhauser, Burak Uzun, Christin Wehner
Stückdauer: 80 Minuten ohne Pause
Karten findet ihr hier
Titelbild und Bilder im Text: Ali Al-Zubaidi
Von Carlotta Leitner