Warum es in der Hauptstadt Venezuelas an jeder Ecke kostenlose Colas gibt: Ein Bericht aus Caracas

„Una cola, por favor.“ Wer so versucht, in Caracas ein Erfrischungsgetränk zu bestellen, wird sich dem irritierten Blick des Kellners ausgesetzt sehen. „Una coca, por favor“ wäre es gewesen. Cola ist in Caracas kein koffeinhaltiges Zucker-Wasser-Gemisch. Cola ist im venezolanischen Dialekt das Wort für Schlange.

Colas gehören zum Stadtbild der Metropole. Lange, sehr lange Menschenschlangen erstrecken sich an den Rändern der Straßen. Vor Bäckereien, Geldautomaten, Läden. Insbesondere vor den Länden, welche vom Staat subventionierte Lebensmittel verkaufen. Es gibt auch Supermärkte wie in Nürnberg, Erlangen oder Fürth. Ohne Cola auf dem Parkplatz, aber mit Coca in den Regalen. Doch in diesen Läden kosten die Waren auch annähernd so viel wie in Nürnberg, Erlangen oder Fürth. Ein normales venezolanisches Einkommen stellt jedoch nur wenige Bruchteile eines deutschen Einkommens dar. Daher harren die Menschen also vor den Läden aus. Und vor den Bäckereien und wegen der galoppierenden Inflation auch vor den Geldautomaten. Mit Glück im Schatten eines Baumes. Mit Pech in der sengenden Tropensonne. Indes blickt von den Fassaden brachialer Wohnblocks kämpferisch, entschlossen, triumphierend das Konterfei des ‘Revolutionsführers’ Hugo Chavez.

Caracas. Foto: Andrés Gerlotti
Caracas. Foto: Andrés Gerlotti

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nach 18 Jahren sozialistischer Scheindemokratie und ökonomischer Monokultur sind eine Seite des Landes. Eine gänzlich andere Seite ist die unglaubliche Vielfalt der venezolanischen Natur. Weite, menschenleere Strände, an denen die kristallenen Wogen der Karibik mal sanft, mal stürmisch branden. Strände, an denen man auf weich geschliffenen Muscheln schreitet, jedoch kein einziges Sandkorn findet. Dramatische Bergkulissen, die fremde, nahezu außerirdische Welten in sich bergen. Welten jenseits der Wolken, bevölkert von bizarren Pflanzen. Venezuela, das sind Kontraste. Dünne, kalte Luft auf den Kämmen und Gipfeln der Anden. Tropische, fast greifbare Schwüle in den Ebenen und Deltas im Osten. Es finden sich fließende Übergänge zwischen labyrinthischen Mangrovenwäldern und salzigen Lagunen, zwischen undurchdringlichem Dschungel und den weit verzweigten Armen der Flussdeltas. Scharen von Pelikanen jagen über dem Meer, Kolibris tänzeln umher an den Hängen der Colonia Tovar und über der Hauptstadt flattern krächzend bunte Papageien.

Während dort, in Caracas, die Nationalgarde nach Einbruch der Dunkelheit ihre Checkpoints errichtet, gibt die Fauna der Wälder am Ufer des Orinoco ein betörendes Konzert. Das sind zwei Seiten des Landes. Vielfalt, Schönheit und Staunen. Armut, Gewalt und Krisen. Es ist zu hoffen, dass sich die eine irgendwann nur noch in den Geschichtsbüchern wiederfindet.

 

von Valentin Held