Selten hat ein ausländischer Wahlkampf in Deutschland solch gesellschaftliche und politische Spannungen ausgelöst wie der um die türkische Verfassungsänderung – ganz zu schweigen von der abscheulichen Rhetorik eines Staatsoberhauptes und führender Politiker.

Wie aber damit umgehen, wenn ein eng befreundetes Land einen gefährlichen Weg einschlägt?

 

Die Gewaltenteilung folgt dem Prinzip der Verteilung von Macht auf verschiedene Staatsorgane mit dem Zweck, das Individuum vor direktem Zugriff durch die Staatsmacht zu schützen und damit seine Freiheit zu gewährleisten. Exekutive, Judikative und Legislative prägen moderne Staatsstrukturen und ermöglichen eine pluralistische Gesellschaft. Hinzu kommt eine vierte, informelle Macht – die Medien. Sie haben zwar keinen direkten Zugriff auf das politische Geschehen, können aber durchaus großen Einfluss auf tagespolitische Themen haben. Eine Zensur findet nicht statt.

Die Justiz ist weitgehend unabhängig und verfolgt keine politischen Ziele. Es gilt die Unschuldsvermutung. Politische Prozesse sind oft langwierig und ein direktes Durchregieren oft nicht möglich. Politische Programme und Ziele kommen daher gekürzt und durch Kompromisse gestutzt beim Volk an. Die ursprünglich angedachte Wirkung erzielen sie oft nicht.

Aufgrund historischer Erfahrungen sind solche Kontrollmechanismen nötig. Das bewusste Anbringen von politischer Langsamkeit ermöglicht auch den Bürgern, sich zu informieren und sich gegebenenfalls zu wehren. Über die Köpfe hinwegregieren ist nicht möglich, daher sind diese Kontrollen für Politiker oft ärgerlich und gerade deswegen von enormer Wichtigkeit. Die hohe Bedeutsamkeit der Checks & Balances erkennt man aktuell in den USA. Trump und seiner Regierung werden von Bundesrichtern, Senat und Kongress Grenzen aufgezeigt, sodass ein Regieren auf Kosten von unschuldigen Minderheiten (zum Beispiel Muslimen) eingeschränkt wird.

 

Was passiert in der Türkei?

Am 16. April stimmt die Türkei in einer Volksabstimmung über tiefgreifende Verfassungsänderungen ab, die das Land – unabhängig vom Ausgang  langfristig prägen werden. Ziel des derzeitigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist die Umformung der Staatsstrukturen in ein Präsidialsystem – so die offizielle Verlautbarung. Bereits in der Parlamentswahl 2011 strebten Erdogan und seine AKP eine Zweidrittelmehrheit an, die es ihm ermöglicht hätte, ohne Zustimmung anderer Parteien oder eine Volksbefragung die Verfassung nach seinen Vorstellungen zu ändern. Mit 327 Parlamentssitzen wurde das Ziel knapp verfehlt.

Der dilettantische Putschversuch am 15. Juli 2016, durchgeführt von einer kleinen laizistisch-kemalistischen Gruppe innerhalb des Militärs, konnte durch den starken Zusammenhalt der türkischen Zivilgesellschaft erfolgreich abgewendet werden. Für die politischen Ziele Erdogans war der Putschversuch ein willkommenes Geschenk, konnte er doch durch die Notstandsverordnung Oppositionelle und Kritiker zum Schweigen bringen und massiv in die türkische Presselandschaft eingreifen.

Fetullah Gülen  einstiger Freund und politisch Verbündeter Erdogans  und seine Hizmetbewegung wurden schnell als Ursache und somit als Feind im Inneren ausgemacht. Beweise dafür fehlen bis heute. Die Gruppierung ist aufgrund ihrer sektiererischen Strukturen skeptisch zu betrachten und stand schon lange in der Kritik, vor allem bei laizistischen Teilen des Militärs und der Bevölkerung. Als stark konservativ-religiöser Politiker nutzte Erdogan das weltweit operierende Netzwerk, um seine Macht auszudehnen. Im religiösen Denken ähnlich ergänzten sich beide. 2013 kam es zum Zerwürfnis zwischen Erdogan und Gülen.

Die massive Korruption  aufgedeckt 2014  im familiären und politischen Umkreis Erdogans war Anlass, die Bewegung (FETÖ) innerhalb von 2 Jahren zum Staatsfeind Nummer 1 zu machen. Es wird vermutet, dass aufgrund politischer Diskrepanzen und öffentlicher Demütigung führende Politiker, die der Gülenbewegung nahe standen, der Polizei und der Presse Hinweise zur Korruption zukommen ließen. Im Anschluss folgten erste Entlassungs- und Verhaftungswellen. Die Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft wurden durch die AKP-Regierung massiv behindert (siehe Reza Zarrab, Ölembargo, Iran, Halkbank). Ebenfalls ist ein Telefongespräch öffentlich gemacht worden, in dem Erdogan seinen Sohn bittet, das Geld so schnell wie möglich aus dem Haus zu schaffen. Die AKP bestreitet die Echtheit des Videos. Die Zeitung, welche die Gespräche öffentlich machte, wurde stark unter Druck gesetzt und Journalisten wurden entlassen.

So war ein perfektes Feindbild gefunden. Denunziantentum, Misstrauen und öffentliche Vorverurteilung durch Regierungsmitglieder folgten. Vergleicht man den Putsch 1980 mit dem im vergangenen Jahr, fällt vor allem Eines auf: Verhaftungen, Schließungen und Enteignungen trafen vor allem mediale Institutionen sowie regierungskritische Firmen, die die massive Vetternwirtschaft (vor allem im Bauwesen) kritisierten. Ebenfalls betroffen waren Akademiker. Nach dem gelungenen Putsch 1980 wurde die Pressearbeit (generell die Medienarbeit) für 10 – 14 Tage ausgesetzt, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Zum Zeitpunkt des 08.02.2017 waren bereits dauerhaft geschlossen:

– 5 Presseagenturen

– 62 Zeitungen

– 16 Fernsehkanäle

– 19 Zeitschriften

– 29 Zeitungsverlage

– 24 Radiosender

– 691 Firmen wurden dem TMSF[1] übergeben
dazu kommen:

– 192 verhaftete Journalisten

– mehr als 2500 entlassene Journalisten

– 12 verhaftete oppositionelle Politiker (trotz Solidarität mit dem Präsidenten und Verurteilung des Putschversuches)

 

Folgende Zahlen bleiben unkommentiert, sollen aber genannt werden, um die Ausmaße deutlich zu machen, mit der die Regierung gegen kritische Stimmen vorgeht. Die Zahlen in Klammern sind von 1980  dem Jahr, in dem das türkische Militär zuletzt vollständig putschte.

Mehr als 60.000 Lehrer (1980: 3.854), 4.800 Akademiker (124), 3.640 Bundesrichter und Staatsanwälte (47) und 185 Staatsanwälte im Bereich des Militärs (47) wurden entlassen. Gegen 135.356 Menschen wird ermittelt (7.245), 102.125 Menschen wurden dauerhaft entlassen (ca. 4.500) und 107.813 Menschen wurden vorläufig suspendiert (bis Unschuld bewiesen wurde). Davon haben 17.000 wieder ihre Arbeit aufgenommen.

 

Sozialer Druck und die informelle Aufhebung der Unschuldsvermutung

Besonders auffällig ist das repressive Vorgehen gegen kritische und investigative Einrichtungen sowie Einrichtungen, die das angestrebte Präsidialsystem nicht befürworten. Übrig geblieben sind staatsnahe und direkt vom Staat finanzierte Einrichtungen. Die Pressefreiheit wurde de facto abgeschafft. Die verhafteten Journalisten sind sozial geächtet, wurden sie doch direkt vom Präsidenten der Pädophilie, Islamophobie und des Staatsverrats sowie des Diebstahls bezichtigt.

Diese informale und soziale Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung durch das Staatsoberhaupt ist Element einer Diktatur und wiegt in der türkischen Gesellschaft schwer, ist doch der soziale Druck und die damit verbundene gesellschaftliche Ächtung in der Türkei wesentlich höher als in Deutschland. (Man kann sich gar nicht vorstellen, dass Joachim Gauck ganze Bevölkerungsgruppen pauschal als Terroristen oder Vaterlandsverräter bezeichnen könnte, um politischen Druck auszuüben.)

Durch diese massiven Schließungen ist eine kritische Auseinandersetzung mit den angestrebten Änderungen nicht mehr möglich und von der amtierenden Regierung nicht gewünscht. Unschuld (oder Schuld) wird nicht mehr durch unabhängige Gerichte geprüft, sondern Schuld bereits im Vorfeld durch öffentlichkeitswirksame Auftritte des türkischen Präsidenten zementiert. Viele türkische Journalisten berichten mittlerweile aus dem Exil, z.B. in Deutschland über das Portal „Özgürüz“ oder über die TAZ Gazette. Aber auch hier sind die Spannungen und Vorurteile gegenüber der „Lügenpresse“ von Seiten türkischer AKP-Anhänger deutlich wahrnehmbar. Der Vorwurf der Terrorpropaganda wird auch bewusst von der türkischen Regierung geschürt.

Eine kritische und öffentliche Auseinandersetzung über die Volksabstimmung ist kaum möglich. Das ist einerseits bedingt durch die Schließungen zahlreicher Medienorganisationen, andererseits durch die öffentliche und soziale Brandmarkung kritischer Journalisten als Volksverräter, Pädophile oder Verbrecher. Ebenso spielt die Religiosität eine große Rolle: So bedient sich die derzeitige Regierung des Slogans „Wer mit Nein stimmt, ist kein Gläubiger mehr“. Wer sich mit dem islamischen Glauben auskennt, weiß, wie schwerwiegend der Vorwurf des Unglaubens ist. Es ist beschämend, wie ein Staatsoberhaupt eine Religion für niedere politische Zwecke missbraucht und damit in den Dreck zieht. Unvorstellbar, wie man das als Mensch und als Anhänger der Religion überhaupt gutheißen kann.

 

 

Was wird geändert?

Offizielle Bestrebung und Verlautbarung ist die Umformung des türkischen Staatsapparates in ein Präsidialsystem mit Vorbild der USA (oder Frankreichs). Die Änderung sollte jedoch als Abschaffung des politischen Systems, der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung bezeichnet werden. Mit der Änderung ist der Präsident nicht mehr der Überparteilichkeit verpflichtet, sondern darf Angehöriger und Vorsitzender einer Partei sein. Da die Wahl des Parlaments und des Präsidenten zeitgleich stattfinden, ist es unwahrscheinlich, dass der zur Wahl stehende Präsident einer anderen Partei angehört als der Mehrheitspartei, sodass das Präsidentenamt mit dem Vorsitz der Mehrheitspartei zusammenfällt. Dadurch kontrolliert der Präsident die Exekutive und das Parlament.

In der türkischen Parteienlandschaft hat der Vorsitzende das Recht, über die Kandidaten auf den Wahllisten zu entscheiden und somit auch über die Zusammensetzung des Parlaments, nicht nur der Regierung. Ohne Zustimmung des Vorsitzenden, der zugleich auch Präsident sein wird, kommt keiner in das Parlament. Hier liegt die Brisanz der Verfassungsänderung. De jure bleibt es bei der Kontrolle der Exekutive durch das Parlament. De facto geschieht es umgekehrt: die Exekutive kontrolliert das Parlament, ermöglicht durch die Tatsache, dass der Präsident Parteiämter übernehmen darf. Wie oben genannt ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Präsidentschaftskandidat gleichzeitig Vorsitzender der Mehrheitspartei ist. Und durch den Vorsitz kontrolliert er, wer in das Parlament kommt. Einer Gewaltenteilung und einem Präsidialsystem entspricht das nicht mehr  das politische System ist nahe an der Diktatur. Das Volk wird entmündigt.

 

Die Entmachtung des Parlaments

Ebenfalls abgeschafft wird das Amt des Ministerpräsidenten. Man bedient sich der Metapher „Ein Boot kann keine zwei Kapitäne haben“. Dafür Offiziere, die den Kapitän auch entheben können. Die Stellvertreter des Staatspräsidenten wie auch die Minister sind nicht mehr dem Parlament  sprich dem Volk  verpflichtet, sondern nur noch dem Präsidenten. Notstandsgesetze können ohne Zustimmung des Parlaments erlassen werden. Das Regierungskabinett erhält somit die Funktion eines Beraterstabs ohne wirklichen Einfluss.

Der Präsident entzieht sich jeglicher Gerichtsbarkeit, die Immunität gilt bis zum Tode. Ein offizielles Verfahren kann nur eingeleitet werden, wenn mehr als 400 (der 600) Parlamentarier dafür stimmen. Da der Präsident das Parlament mit einer Präsidialverordnung auflösen kann, ist es unwahrscheinlich, dass es zur Aufhebung der Immunität und zu gerichtlichen Untersuchungen kommt.

Um auf die Metapher des Boots und der Kapitäne zurückzukommen: Der Kapitän meutert und entmachtet seine Mannschaft. Um mit den Worten des Präsidenten des deutschen Bundestags, Norbert Lammert, zu sprechen: Der Putsch von oben.

 


Fazit

Die Türkei ist auf dem Weg in eine Diktatur, auch wenn es emotional nicht fassbar ist. Sie nimmt nur den Umweg über eine illiberale Demokratie und das theoretische Postulat des Präsidialsystems.

Das Versprechen des starken Mannes, die Türkei wieder zu ihrer ehemaligen Größe zu bringen, ist ein Taschenspielertrick. In einer komplexen, globalisierten und voneinander abhängigen Welt ist das Bedienen nationaler Gefühle der falsche Weg. Wie jeder populistische Politiker bedient sich Erdogan schamlos religiöser, nationaler und existenzieller Ängste derjenigen, die darauf vertrauen, dass er sie wieder zu Ruhm und Ehre bringen werde. Da auch er als Staatspräsident mit seinem Land an engverwobene, komplexe Strukturen der globalen wirtschaftlichen Abhängigkeit gebunden ist, benötigt er ein Feindbild, auf das er all die Ängste derjenigen projizieren kann, die mit der gesellschaftlichen Komplexität nicht mehr zurechtkommen.

Das Prinzip funktioniert überall gleich, egal ob bei Trump (“Make America Great Again”), der AfD (“Deutschland den Deutschen”) oder dem Front National (“Frankreich zuerst”). Es ist Glorifizierung und Überhöhung der eigenen Gruppe durch Erniedrigung und Enthumanisierung anderer (“Gülenisten sind keine Muslime, keine Menschen”). Stärke ist das nicht und es entspricht auch nicht der Würde und dem Respekt eines Staatspräsidenten. Eher einem gewieften Politiker, der seine Anhänger gegen Mitbürger aufstachelt und sich am Ende doch nur selbst bereichert.

Kritisch zu betrachten ist auch, dass diejenigen, die kompetent über die Verfassungsänderung aufklären können, ihre Arbeit und ihre Existenz verloren haben und daher keinerlei öffentliche Präsenz mehr haben. Die amtierende Regierung tut alles Erdenkliche, um Gegner des angestrebten Präsidialsystems zu diskreditieren und als Vaterlandsverräter zu stigmatisieren. Paranoide Ängste und Verschwörungstheorien werden gezielt eingesetzt und bestimmen den Alltag der breiten Bevölkerungsschicht: Die Angst vor einer dunklen, unsichtbaren, nicht fassbaren Macht, die bedrohlich wirkt; die Angst vor dem Fremden im Land.

Ein Präsident, der andere erniedrigt, um sein Volk im Geiste des Nationalismus zu erhöhen, ist seines Amtes nicht würdig.

Als Mensch in ein Volk hineingeboren zu werden ist keine Leistung und verdient keinen Stolz.

Ein starker Mann benötigt kein selbstkonstruiertes, paranoides Feindbild, von dem er sich abgrenzen kann, nur um seinen Anhängern das Gefühl der Höherwertigkeit zu geben.

Ein Staatsmann missbraucht keine Religion, um politische Ziele zu verfolgen.

Schon gar nicht bezeichnet er Angehörige des gleichen Glaubens öffentlichkeitswirksam als Kinderschänder und Terroristen. Das widerspricht jeglichem ethischen und moralischen Grundprinzip des islamischen Glaubens.

Kritik an der türkischen Regierung ist keine Islamophobie und erst Recht kein Hass auf den Islam. Durch diese Behauptung entzieht man sich lediglich schön einfach jeglicher Kritik (unfassbar für mich als Muslim). Die Überhöhung einer Nation und deren Zugehörigkeit zum wahren Glauben brachte in der Geschichte noch nie ein gutes Ende hervor. Wer, wenn nicht die Deutschen, weiß davon zu sprechen.

Was bleibt, ist ein Brandfeld, ein Trümmerhaufen, besonders für diejenigen, die in Deutschland leben und sich für und um die Gesellschaft hier bemühen. Die Anstrengungen um eine starke Zivilgesellschaft und die soziale Anerkennung des islamischen Glaubens werden durch einen Staatspräsidenten zunichte gemacht. Zusätzlich kippt er Öl ins Feuer unserer populistischen Volksverführer und schadet den eigenen Leuten in Deutschland. Wer so etwas absichtlich in Kauf nimmt, nur um politisches Kapital daraus zu ziehen, ist nicht mehr bei Verstand.

Die Türkei ist auf einem gefährlichen Kurs, einem Kurs in eine nationalistische Diktatur, mit einem sozialen Brandstifter als Präsidenten.

 

 

[1] The Savings Deposit Insurance Fund of Turkey. Dieser ist direkt mit dem Ministerpräsidenten verbunden und in großen Teilen an der türkischen Medienlandschaft beteiligt. Werden Firmen dem TSMF rechtlich übertragen, kommt das einer staatlichen Enteignung gleich.

 


von Simon Maierhofer