Obwohl Nacktheit das Menschlichste ist, das jeder Mensch besitzt, scheiden sich an dem Thema die Geister. Ein Einblick, wie die bildende Kunst damit umgeht.

 

100 Frauen nahmen im Jahr 2005 an einer Performance der italo-amerikanischen Künstlerin Vanessa Beecroft in der Berliner Nationalgalerie teil – und zwar komplett nackt, abgesehen von ihren durchsichtigen Strumpfhosen. Nacktheit in musealen Kontexten und allgemein in der westlichen Kunst ist heutzutage also nicht nur visuell präsent, sondern auch leiblich-physisch. Eine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist es aber keineswegs, denn schon seit der Antike sind Nacktheit und Kunst unzertrennbar. Doch im Laufe der Geschichte wurden mal mehr und mal weniger freie Körperpartien akzeptiert, zeitweise war es gar ein Tabu. Angefangen bei kleinen Geschlechtsteilen antiker Skulpturen und übermalten Genitalien im Barock bis hin zu nackten Kindern in Künstlerateliers soll in diesem Artikel schlaglichtartig die Geschichte der Nacktheit in der westlichen Kunst reich bebildert dargestellt werden.

Das Geheimnis der kleinen Penisse

Im antiken Griechenland zelebrierte man den menschlichen Körper in seiner ganzen Schönheit – also durchaus auch ohne Bekleidung. Zahlreiche Marmorskulpturen und einige Bronzegüsse haben sich bis heute erhalten. Was uns dabei oft überrascht, ist die Größe des männlichen Geschlechtsteils. Aber warum ist er eigentlich so klein? Antike Bildhauer wollten den Menschen als ein rational denkendes Wesen darstellen – ein großer Penis jedoch stand für Triebhaftigkeit und Dummheit. So besitzt auch Michelangelos in Anlehnung an antike Ideale entstandene David oder die Neptunstatue auf der Florentiner Piazza della Signoria ein eher unterdimensioniertes Geschlechtsorgan.

Detail des Neptunbrunnens in Florenz (Foto: Martin Scherbakov)

Die allgegenwärtigen Feigenblätter

Ein Sinneswandel begann mit der Christianisierung Europas. Im 1. Buch Mose können wir lesen: „Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz“ (Gen 3,7). Die Rede ist natürlich von Adam und Eva, die nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies ihrer Nacktheit bewusstwerden und sich dafür zu schämen beginnen. Abhilfe leisteten ihnen die erwähnten Feigenblätter, welche seitdem zu einer festen Größe der europäischen Kunstgeschichte wurden (anstelle des Feigenlaubs traten in der Neuzeit meist Efeublätter). Im Mittelalter reichte das Grünzeug oft von den Knien bis zum Bauch – auch der spätmittelalterliche Bildschnitzer Tilman Riemenschneider setzte seinen Adam und Eva zwei ziemlich große Blätter auf. Nackt wurden im Mittelalter höchstens Narren dargestellt – also diejenigen, die der fleischlichen Liebe verfallen waren, im Übrigen aber war die Darstellung gänzlich unverhüllter menschlicher Körper ein Tabu.

Tilman Riemenschneiders Adam und Eva, zu sehen im Museum für Franken in Würzburg (Foto: Martin Scherbakov)

Michelangelos Tabubrüche

Auslöser für einen erneuten Sinneswandel war die Wiederentdeckung der antiken Ideale, und somit auch der idealen Nacktheit, in der Zeit der Renaissance, der Wiedergeburt der Antike. Nach einer etwa tausendjährigen Unterbrechung traute man sich wieder, Menschen unverhüllt abzubilden, wie z.B. Michelangelo in der Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Künstler dieser Zeit begingen somit einen Tabubruch.  Auch Venusdarstellungen waren ein völliges Novum – nicht nur das Motiv war heidnischen und nicht christlichen Ursprungs (im Mittelalter bereits oft ein Tabu an sich), sondern die Nacktheit (des wohlgemerkt weiblichen Körpers) wurde auch zum zentralen Bildgegenstand gemacht, man denke nur an Venusbilder von Giorgione oder Tizian.

Titian: Venus von Urbino, 1538, Uffizien, Florenz

Hosenmaler und Kastraten

Dem Triumphzug der unverhüllten Menschendarstellungen wurde aber auf dem in der Mitte des 16. Jahrhunderts stattgefundenem Konzil von Trient ein jähes Ende gesetzt. Europa und die Kirche war gespalten, Martin Luthers 95 Thesen schlugen hohe Wellen. Und während Protestanten jegliche bildlichen Darstellungen ablehnten, sollte nun in der katholisch gebliebenen Welt die Kunst ganz im Dienste der Kirche stehen. Antike Schönheitsideale erschienen dabei eher als unangemessen. So wurde nur 30 Jahre nach Michelangelos Fertigstellung der Darstellung des Jüngsten Gerichts, welches etwa 400 komplett entblößte Figuren umfasste und 17 Meter in der Höhe misst, Daniele da Volterra, der später als der Hosenmaler in die Geschichtsbücher einging, mit dem Übermalen der Schamteile beauftragt. Erst in den 1990er Jahren wurden seine Übermalungen entfernt – allerdings nur teilweise, noch heute sind in der Sixtinischen keine Geschlechtsteile zu sehen. Nacktheit im kirchlichen Kontext schein selbst im 21. Jahrhundert, zumindest im Vatikan, tabuisiert zu sein.

Detail aus dem Jüngsten Gericht von Michelangelo

Da Volterra kann aber auch als der Erretter von Michelangelos Jüngstem Gericht angesehen werden – ohne seine Übermalungen hätte es gänzlich zerstört werden können. Skulpturen aber mussten ein viel größeres Übel erleiden: Während bei Frauendarstellungen ein Efeublatt im Schambereich einfach angebracht werden konnte, musste bei männlichen Skulpturen das Geschlechtsteil erst entfernt werden – meist mit Hammer und Meißel. Legenden zufolge schlug ein besonders eifriger Papst zahlreichen Skulpturen sogar eigenhändig die Genitalien ab, man könnte schon fast sagen, er habe sie kastriert.

Skulptur mit einem abgeschlagenen Geschlechtsteil (Foto: Martin Scherbakov)

Adam und Eva im Fellschurz

Seitdem verschwanden Darstellungen männlicher Geschlechtsteile fast vollständig aus Skulpturen und von Leinwänden (bis erst Bildhauer im 19. Jahrhundert den Mann wieder in Gänze zeigten) – Frauen aber wurden auch weiterhin nackt gemalt und gemeißelt. Solche Gemälde und Plastiken waren aber, anders als bei Michelangelo, meist für den privaten und nicht für den öffentlichen Raum bestimmt. Besonders in kirchlichen Kontexten dagegen blieb Nacktheit oft weiterhin ein Tabu. So empfand man noch im 19. Jahrhundert Van Eycks spätmittelalterliche Darstellungen Adam und Evas in der Genter St.-Bavo-Kathedrale als anstößig, obwohl beide ihre Scham verdeckten. Man fertigte eine normenkonforme Version an, in der Adam und Eva von den Knien bis zu den Schultern in Fellschurze eingewickelt waren. Heute kann man wieder Van Eycks Originale in der St.-Bavo-Kathedrale bestaunen.

Adam und Eva mit und ohne Fellschurze, Detail aus dem Genter Altar von den Gebrüdern Van Eyck

L’origine du monde

Ein Tabu war die Darstellung nackter Frauen aber keineswegs, unter der Bedingung, dass man diese in einen mythologischen Kontext versetzte. Man bildete keine realen Personen ab, sondern z.B. die Göttin Venus, in ihrer idealen Nacktheit, d.h. niemals mit Schamhaaren (was in der damaligen Zeit meist nicht der Realität entsprach). Erst vor diesem Hintergrund kann man verstehen, wieso Gustave Courbets Gemälde „L’origine du monde“ (zu Deutsch „die Entstehung der Welt“) aus dem Jahre 1866 wohl als der größte Tabubruch in der Kunstgeschichte gelten darf. Dargestellt ist eine Frau, die ihre Beine ausgespreizt hat – ihre behaarte Scham ist zweifelsohne der Bildmittelpunkt, ein Ausschnitt zwischen ihren Knien und der Brust umfasst das gesamte Bild. Ist es überhaupt noch Kunst? Oder bereits Pornografie? Selbst anderthalb Jahrhunderte nach seiner Erschaffung besitzt das Gemälde eine eindringliche Wirkung, hängt aber trotzdem im Pariser Musée d’Orsay an prominenter Stelle und kann selbst von Kindern dort eingesehen werden. Zwar malte es Courbet für einen privaten Auftraggeber und erst 1995 konnte die breite Öffentlichkeit dieses Werk zum ersten Mal im Original erleben, dennoch kann Courbet als der Initialzünder einer Entgrenzung der Nacktheit in der westlichen Kunst gelten.

Gustave Courbet: L’Origine du monde, 1866, Musée d’Orsay, Paris

Die Entgrenzung der Nacktheit

Einerseits bewegt sich Courbets „L’origine du monde“ an der Grenze zwischen Malerei und Pornografie, andererseits ist es, zumindest aus heutiger Sicht, auch kein Tabu(bruch) mehr. Unzählige Künstler ließen sich davon inspirieren und malten Frauen in obszönen Posen, mit und ohne Schambehaarung, so z.B. Egon Schiele. Wenngleich es auch das eine oder andere Gemüt erzürnt, explizite Darstellung der Nacktheit ist in unseren Museen längst zur Realität geworden. So konnte man z.B. 2008 in Wolfsburg Fotografien des Japanischen Künstlers Nobuyoshi Araki bewundern, der seine Modelle nicht nur oft komplett nackt in eindringlichen Posen ablichtet, sondern sie dabei auch oft zusammenbindet, indem er auf die Shibari-Technik zurückgreift und somit auf sexuelle Tabus Bezug nimmt. Tabus sind nämlich wandelbar, und zwar in beide Richtungen. Einerseits stellt heutzutage für uns die Nacktheit im Bild kein Tabu mehr dar, sehr wohl aber, wenn es sich um nackte Kinder handelt, was früher jedoch viel gelassener als heute angesehen wurde. So malte Anselm Feuerbach 1867 „Kinder am Strande“, darunter ein noch junges Mädchen. Zwar trägt sie eine Bluse und einen Rock, ihre rechte Brust aber ließ Feuerbach unverhüllt.

Anselm Feuerbach, Kinder am Strande, 1867, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt

Der expressionistische Maler Ernst Ludwig Kirchner und seine männlichen Malerkollegen gingen noch weiter und nahmen Fränzi, ein neunjähriges Mädel, mit auf gemeinsame Fahrten aufs Land, wo sie nackt vor den Künstlern posieren durfte. Auch in seinem Atelier war sie ein Stammgast, zusammen mit anderen jungen Mädchen turnte sie nackig durch die Zimmer und musste sich auch mal auf einen auf dem Bauch liegenden Mann mit ausgespreizten Beinen von oben draufsetzten, ebenfalls nackt. Zwar entfernen wir Kirchners Gemälde deshalb noch nicht aus unseren Museen, aber würde heute ein Künstler versuchen, neunjährige Kinder ohne Bekleidung zu malen, würde er wohl eher in einer Behandlungsanstalt landen, anstatt ein populärer Künstler zu werden.

Ernst Ludwig Kirchner: Mädchen mit Katze (Fränzi), 1910

Im Nachklang der #MeToo-Debatte hingegen wurde in Manchester das Ölgemälde „Hylas und die Nymphen“ (1896), auf welchem sieben nackte Frauen in einem Teich und zwischen ihnen ein bekleideter Mann zu sehen sind, abgehängt. Dieses Ereignis löste eine kontroverse Debatte aus, nach nur einer Woche wanderte schließlich das Bild in die Ausstellungsräume zurück.

John William Waterhouse: Hylas and the Nymphs, 1896, Manchester Art Gallery

Ganz tabuisiert scheinen aber Bildnisse unbekleideter Kinder im Namen der Kunst doch nicht zu sein: Die US-amerikanische Fotografin Sally Mann, Jahrgang 1951, fotografiert gerne nackte Kinder, ihre preisgekrönten Bilder werden heutzutage in Kunstgalerien ausgestellt. Ein Mädchen an der Schwelle zum Jugendalter ahmt in „Venus after School“ (1992) z.B. Tizians Venus von Urbino nach – gänzlich unbekleidet wie im Original. Ob dies auch einem männlichen Künstler gelungen wäre, heute mit solchem Bildmaterial berühmt zu werden?

Und selbst nackte Performer schaffen es heute kaum noch, einen Tabubruch zu begehen: Der Aktionskünstler Andrey Kuzkin z.B. buddelt sich kopfüber in die Erde ein, nur seine Beine und die Scham schauen noch heraus. Wirklich Aufmerksamkeit erlangt er damit kaum, denn heutzutage sind wir an Nacktheit in der Kunst, sei es in Gemälden, Fotografien oder in Performances, mehr als gewöhnt.

 

von Martin Scherbakov

 

Bildrechte, in der Reihenfolge wie sie im Text erscheinen, wenn nicht anders gegeben:

Venus von Urbino 

Jüngstes Gericht

Adam und Eva in Fell

Adam und Eva mit Feigenblatt

L’origine du monde  

Kinder am Strande

Mädchen mit Katze

Hylas and the Nymphs