Kompakt und mit drei großartigen Darsteller*innen wird die komplexe Geschichte des 15-jährigen Željko Drazenko Kovačević erzählt, der alles daran setzt, als erster in der Familie den sozialen Aufstieg zu schaffen. Dabei spielt seine Beziehung mit der wesentlich älteren Martha eine große Rolle.

Wenn man mit 15 Jahren von einem gelangweilten, uninteressierten Berufsberater, der lieber auf seinen Computerbildschirm starrt, als seinen Klient*innen in die Augen zu sehen, gesagt bekommt, man solle am besten von der Schule abgehen, das mit dem Abitur gleich mal vergessen und eine Ausbildung zum Gärtner anfangen, was macht man dann? Wenn man doch eigentlich so viel mehr will? Der junge Željko Drazenko Kovačević, ein Kind der kroatischen Diaspora, nimmt dies zum Anlass, zu kämpfen. Er will studieren, will hoch hinaus, will sich nicht unterkriegen lassen vom Klassismus und Rassismus, die ihm in Deutschland überall begegnen.

Hilfe erhält er dabei von der titelgebenden Martha, einer älteren, gebildeten Frau, die ihn mit ihrer Intelligenz anzieht wie das Licht eine Motte. Er lernt sie kennen, weil – wie kann es anders sein, in diesem Deutschland – seine Mutter bei ihr putzt. Martha eröffnet ihm die Tür zur höheren Bildung und taucht dabei in seinem Leben auf und ab wie Nessie. Mal ist sie da, dann wieder ist sie ein wohlwollendes Mysterium, das schützend seine Hand über Željko hält. So ganz erfüllt sich diese Beziehung auf der Bühne nie, entspricht damit nicht der typischen Vorstellung einer Romanze, sie wird aber zum durchgängigen roten Faden, wirft Martha doch große Schatten über Željkos Existenz.

Martha (Ulrike Arnold) führt Željko (Luca Rosendahl) in die Wunder der Oper ein (Foto: Konrad Fersterer).

Die Bühnenadaptation des Romans „Jahre mit Martha“ von Martin Kordić, inszeniert von Julia Hölscher, lebt von den drei Darsteller*innen. Sie entspinnen im fließenden Übergang zwischen Erzähler*in und Spieler*in Željkos Leben wie einen seidenen Faden. Sie geben dabei ihr Bestes, die lediglich mit einem mit Stoff verhängten Steg bestückte Bühne der Kammerspiele mit Leben zu füllen (Bühne & Kostüm: Paul Zoller).

Ulrike Arnold spielt die enigmatische und kluge Martha Gruber, mit der Željko eine Liebesbeziehung anfängt. Selbst, als sie sterbenskrank wird, gibt Arnold dem Charakter noch charmante Leichtigkeit, über die man beinahe vergessen könnte, dass ihre Beziehung zu Željko ihre Anfänge nahm, als dieser noch minderjährig war. Marthas Moralität und ihre Motivation, Željko zu helfen, werden erst sehr spät und flüchtig in Frage gestellt.

Thorsten Danner verkörpert Alex Donelli, einen von Željkos Professoren. Donelli versteht scheinbar, was in Željko vorgeht, ist er doch selbst das Kind italienischer Einwander*innen, das sich alles selbst erkämpfen musste. Bei Danner wird er zu einem leichtlebigen Taugenichts, der Željko ausnutzt und plötzlich unverfroren fallenlässt.

Luca Rosendahl, der diese Spielzeit sein Erstengagement im Ensemble des Staatstheaters Nürnberg antritt, präsentiert einen vulnerablen, aber fest entschlossenen Željko, der sich für seinen sozialen Aufstieg absolut aufopfert. Rosendahl gibt dem jugendlichen Željko mit viel Elan Raum, sich zu entfalten, tanzt ausgelassen und spricht sanft. Mit Hilfe der Kinderstatisterie – eine immer wieder auftauchende Verbindung zu Željkos kroatischem Erbe – gelingt es Rosendahl abzubilden, wie sehr Željkos Identität in der Schwebe ist.   

Ulrike Arnold, Luca Rosendahl und Thorsten Danner (Foto: Konrad Fersterer).

Ebenso in der Schwebe ist die Antwort auf die Frage, was er nun sein will, dieser Abend: Eine Liebesgeschichte? Eine Migrationsbiografie? Ein Vorwurf an den Umgang der Deutschen mit Einwander*innen, eine Geschichte über das Deutsch-sein, das Nicht-Deutsch-sein – oder doch eher eine Geschichte über Einsamkeit? Alle diese Aspekte spielen eine Rolle, der Abend entscheidet sich nicht und so fühlt es sich manchmal an, als hätte keine dieser Geschichten so hundert Prozent ihren erzählerischen Kern erreicht, bevor wieder auf einen anderen Erzählstrang umgeschwenkt wird. Auf die Art und Weise, wie er endet, ist unklar: Wo ist Željko jetzt und was wird aus ihm werden? Ist er denn wenigstens mit sich selbst im Reinen? So könnte man dem Abend einige unerfüllte Potentiale anlasten oder aber einen Spiegel der facettenreichen Natur von Željko darin erkennen, der sehr lange versucht hat, jemand anderes zu sein, als er ist. Dem Anspruch, das komplexe Netz einer Person und ihrer Identität aufzuspannen, wird der Abend durchaus gerecht.

Eine Stunde und zehn Minuten sind nicht viel Zeit, um eine Biografie zu erzählen. Oder vielleicht gerade genug, oder womöglich genau richtig, solange es nicht ein ganzes Leben ist. Und der Željko, der am Ende auf der Bühne steht, hat noch einiges an Leben vor sich.

Jahre mit Martha nach dem Roman von Martin Kordić

am Staatstheater Nürnberg

Regie: Julia Hölscher

Bühne & Kostüm: Paul Zoller

Musik: Friederike Bernhardt

Licht: Günther Schweikart

Künstlerische Mitarbeit: Simon Hastreiter

Mit: Ulrike Arnold, Thorsten Danner, Luca Rosendahl; Kinderstatisterie: Frida Bohl, Elena Bohnert, Daniel Cantu, Klara Kolarik, Antonia Schreier/Luna Bertsch, Mykhail Grabovskyi, Elisa Lang, Mila Rösch, Amélie Villarreal

Englische Übertitel & Übersetzung: Kristina Wadepohl, David Doczkal

Dauer: 1 Stunde 10 Minuten

Mehr Infos und Tickets hier.

von Svenja Plannerer

Beitragsbild & Bilder im Text: Staatstheater Nürnberg/Konrad Fersterer