Endlich wird sich in der Nürnberger Oper mal ein bisschen mehr getraut: In der Inszenierung von Ilaria Lanzino wird aus Lucia Luca, aus der hetero eine queere Beziehung. So schön Gesang und Musik auch sind, ein gutes Ende nimmt die Geschichte nicht.

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Draußen über dem Eingang hängt das Premierenbanner von „Lucia di Lammermoor“, demonstrativ in Regenbogenfarben bemalt, und damit ein bunter Kontrast zum zwar beeindruckenden, aber eher einfarbigen steingrauen Bau des Nürnberger Opernhauses. Für die Gestaltung des Banners gab es im Vorfeld der Premiere auf dem Richard-Wagner-Platz eine extra Malaktion mit dem Titel „Lucia macht bunt!“ – mit Lip Sync Battle und begleitet von Drag Queen Roxy Rued. Es soll hier also queer zugehen und damit auf Jugendliche aufmerksam gemacht werden, die sich aus Angst vor Ausgrenzung und Gewalt nicht outen können, oder die nach ihrem Outing in heteronormative Schubladen zurück gezwungen werden und ihre Identität nicht frei ausleben dürfen.

Luca (vorne: Andromahi Raptis) soll Emilia (hinten links: Sara Šetar) heiraten; so will es sein Bruder Enrico (2. v.l.: Ivan Krutikov).

Die ursprüngliche Handlung der Belcanto-Oper von Gaetano Donizetti geht in etwa so: Lucia, die seit dem Tod der Eltern bei ihrem Bruder Enrico lebt, ist in Edgardo verliebt. Der aber stammt aus einer dem Bruder verfeindeten Familie. Enrico intrigiert gegen das Liebespaar, fängt einige Nachrichten ab und fälscht andere, und zwingt Lucia schließlich erfolgreich in eine für ihn politisch vorteilhafte Ehe mit Arturo. Lucia verfällt dem Wahnsinn und ersticht Arturo in der Hochzeitsnacht.

Regisseurin Ilaria Lanzino macht in ihrer mittlerweile dritten Inszenierung an der Oper am Staatstheater Nürnberg aus Lucia nun Luca, eine Figur, die man im gegebenen Kontext sowohl als trans als auch cis Mann, oder sogar als nicht-binär lesen kann (im Folgenden werden für Luca er/ihm Pronomen verwendet). Luca liebt Edgardo, was in den Augen der versteiften, konservativen Gesellschaft, die Luca umgibt, natürlich überhaupt nicht geht. So eine Liebe sei „abscheulich“ und „krank“. Luca soll also eine Frau heiraten – aus Arturo wird Emilia gemacht. Diese Änderungen haben auch eine Konsequenz für das Ende, denn dem Liebespaar wird durch einen Gewaltakt Enricos das Happily Ever After verwehrt.

V.l.: Enrico (Ivan Krutikov) manipuliert Luca (Andromahi Raptis) und zieht Emilia (Sara Šetar) mit hinein.

Auf der Bühne wird immer wieder der Kontrast zwischen dem schmerzhaft binären Denken der zwanghaft heteronormativen Gesellschaft und der Freiheit, die offen ausgelebte Queerness bringen kann, deutlich gemacht. Das beginnt schon mit den Kostümen von Emine Güner: Hier treffen schwarz-weiße Anzüge und knallbunte, schrille Outfits aufeinander. Letztere lassen an die Netflix-Serie „Sex Education“ denken, mit Glitzer, Crop-Tops und Colour Blocking. Die steifen, farblosen Damen und Herren der politischen High Society sehen sich mit Lucas queerer Freundesgruppe aus sechs farbenfrohen Tänzer:innen konfrontiert, die nicht nur die optisch kaum voneinander zu unterscheidende Masse auflockern, sondern mit ihren Choreografien auch dringend nötige Bewegung auf die Bühne bringen. Was sie präsentieren, lässt unter anderem an Vogue, Modern Dance, Contemporary und Pop denken (Choreografie: Valentí Rocamora i Torà).

In der Hauptrolle glänzt Andromahi Raptis als Luca, der sich aufgrund des Drucks und der Manipulation verschiedener Stimmen um ihn herum in die Ecke gedrängt sieht. In seinen Augen bleibt ihm keine andere Wahl, als Enricos Wunsch einer Heirat mit Emilia zu erfüllen. Raptis beweist ihre stimmliche Virtuosität durchgehend; besonders im Kopf bleibt ihr Duett mit der Glasharmonika, gespielt von Friedrich Kern. Ihr gegenübergestellt ist Sergei Nikolaev als gefühlvoller Edgardo, mit dem sie mehrere wunderschöne Duette singt. Glücklicherweise scheut sich Lanzino nicht, die Liebe zwischen Luca und Edgardo explizit zu machen und hält sich nicht mit scheuen Blicken oder verhaltenen Berührungen auf, die nur andeuten, wie sehr sie sich mögen: Die beiden Hauptcharaktere dürfen sich glücklich küssen und zeigen ihre Zuneigung auch körperlich.

Luca (Andromahi Raptis) und Edgardo (Sergei Niklaev).

Ivan Krutikov spielt Enrico, Lucas ganz aufs Kalkül bedachten Bruder, dem mit Jang Joohoon als Normanno ein fieser Handlanger zur Seite gestellt wird. Sara Šetar übernimmt die Partie der Emilia, die sich freut, mit der Heirat ihre Pflicht erfüllen zu können und als geschmähte Braut von der Bühne geht. Nicolai Karnolsky spielt den Priester Raimondo, der zwar erst im Dienste Enricos ganze Überzeugungsarbeit an Luca leistet, sich in Lanzinos Fassung am Ende jedoch auf die Seite des queeren Paares schlägt – und dafür prompt seines Amtes enthoben wird. Ein nettes Detail, das gleichzeitig Kritik an der Kirche und ihrer Haltung gegenüber Queerness aufgreift. Ein weiteres solches gelingt der Regisseurin, indem sie den gewalttätigen Tod einer trans Frau auf die Bühne holt und damit an die zahlreichen Opfer von Gewalt gegenüber trans Menschen erinnert.

Der Opernchor umringt das zentrale Geschehen auf der Schräge in der Bühnenmitte immer wieder, und legt damit noch mehr Augenmerk auf den unglaublichen sozialen Anpassungsdruck, der auf Luca lastet. Alle Darstellenden zusammen mit der Staatsphilharmonie unter dem Dirigat von Jan Croonenbroeck, dem neuen ersten Kapellmeister des Staatstheater Nürnbergs, klingen beeindruckend.

Die Geschichte von Luca und Edgardo nimmt kein gutes Ende.

Für das Genre Oper ist diese Neuschreibung von „Lucia di Lammermoor“ vermutlich ein großer Schritt, und es kann nur zu Mut aufgerufen werden, denn da geht bestimmt noch mehr. Lanzino und ihr Team haben schon mal gut vorgelegt.

Lucia di Lammermoor Oper von Gaetano Donizetti

am Staatstheater Nürnberg

Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck

Regie: Ilaria Lanzino

Bühne & Kostüme: Emine Güner

Chorleitung: Tarmo Vaask

Dramaturgie: Wiebke Hetmanek

Choreografie: Valentí Rocamora i Torà

Licht: Thomas Schlegel

Dirigat zur Premiere am 05.11.2023: Jan Croonenbroeck

Besetzung: Ivan Krutikov, Andromahi Raptis, Sergei Nikolaev, Sara Šetar, Nicolai Karnolsky, Anna Bychkova, Jang Joohoon (장주훈); Staatsphilharmonie Nürnberg; Chor des Staatstheater Nürnberg; Tänzer:innen: Chayan Blandon-Duran, Moe Gotoda, Andrii Punko, Tirza Ben-Zvi, Stella Covi, Davide Troiani; Glasharmonika: Friedrich Kern

In italienischer Sprache mit Übertiteln in Englisch und Deutsch.

Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, 1 Pause

Mehr Infos und Tickets hier.

von Svenja Plannerer

Beitragsbild & Bilder im Text: Ludwig Olah

– English –

Finally the Nuremberg Opera shows some more daring: In Ilaria Lanzino’s stageing Lucia becomes Luca, the hetero relationship becomes a queer relationship. As beautiful as the singing and music might be, the story does not have a happy ending.

Over the entrance outside hangs the premiere banner of „Lucia di Lammermoor“, pointedly painted in rainbow colours, presenting a colourful contrast to the, while impressive, rather drab, stone-coloured structure of the Nuremberg Opera House. Before the premiere, the Staatstheater Nuremberg hosted a painting event for said banner, titled “Lucia macht bunt!” (“Lucia makes it colourful!”) – with a lip sync battle, and accompanied by drag queen Roxy Rued. So this is about being queer, and aims to shine a light on youths who cannot out themselves out of fear of social exclusion and violence, or who are forced back into a heteronormative lifestyle after outing themselves, instead of being allowed to live out their identity freely.

The original plot of Gaetano Donizetti’s belcanto opera goes a little like this: Lucia, who has been living with her brother Enrico ever since their parents’ deaths, is in love with Edgardo. Edgardo, however, is from a family her brother hates. Enrico conspires against the lovers, intercepts some messages and forges others, and finally suceeds in forcing Lucia into a politically beneficial marriage with Arturo. Lucia goes mad and stabs Arturo during their wedding night.

Director Ilaria Lanzino, who presents her third work at the Staatstheater Nuremberg, transforms Lucia into Luca, a character who, in the given context, might be interpreted as a trans or a cis man, or even as nonbinary. (In the following, Luca will be adressed with he/him pronouns.) Luca loves Edgardo, which is unthinkable in the eyes of the stiff, conservative society that surrounds Luca. A love like that is “abominable” and “sick”. Therefore, Luca is supposed to marry a woman – Arturo becomes Emilia. This change to the story has consequences for the ending, as well, since the lovers are deprived of their Happily Ever After by a brutal act of Enrico’s.

On stage, the contrast between the painfully binary thinking of a compulsively heteronormative society and the freedom openly lived queerness can bring is displayed repeatedly. It begins in the costume desing by Emine Güner: black-and-white suits meet brightly coloured costumes reminiscent of the Netflix series “Sex Education”, with glitter, crop tops and colour blocking. The stiff, colourless ladies and gentlemen of the political high society are confronted with Luca’s queer friend group comprised of six dancers, who not only loosen up the barely distinguishable mass, but also provide much needed movement on stage. Their choreographies bring to mind Vogue, Modern Dance, Contemporary and Pop (choreography: Valentí Rocamora i Torà).

Andromahi Raptis shines in the lead role of Luca, who sees himself cornered by the pressure and manipulation of several different voices around him. In his eyes, there is no choice but to fulfil Enrico’s wish of marrying Emilia. Raptis proves her virtuoso use of her voice continually throughout the evening; her duet with the glass harmonica, played by Friedrich Kern, is especially memorable. Opposite her, Sergei Nikolaev plays a soulful Edgardo, with whom she sings several beautiful duets. Luckily, Lanzino does not shy away from making Luca’s and Edgardo’s love explicit and does not obstruct herself with shy looks or restrained touches that only hint at the intesity of their feelings: the two main characters can kiss happily and show the physical side of their love, as well.

Ivan Krutikov plays Enrico, Luca’s power-hungry brother, who is partnered with Jang Joohoon as his nasty henchman. Sara Šetar plays Emilia, who is happy to fulfil her duty with the marriage, but who leaves the stage as a spurned bride. Nicolai Karnolsky plays the priest Raimondo, who might persuade Luca into participating in Enrico’s scheme at first, but who, in Lanzino’s interpretation, sides with the queer couple in the end – and is promptly removed from his office. A lovely detail, which incorporates criticism of the church and its treatment of queerness. The director manages another such detail by displaying the brutal death of a trans woman on stage and thus calling to mind all the victims of violence against trans individuals.

The opera’s choir repeatedly gathers around the stage’s center, thus underlining the immense social pressure to adapt to heteronormative standards weighing on Luca’s shoulders. All members of the cast, in combination with the philharmony conducted by Jan Croonenbroeck, the Staatstheater Nuremberg’s new first bandmaster, sound impressive.

For opera as a genre, this re-write of „Lucia di Lammermoor“ is most likely a huge step, and it can only serve as encouragement, because there’s still room for more. Lanzino and her team have put down a good example.

Lucia di Lammermoor Opera by Gaetano Donizetti

at the Staatstheater Nürnberg

Musical Direction by: Jan Croonenbroeck

Directed by: Ilaria Lanzino

Stage & costume design: Emine Güner

Chorleitung: Tarmo Vaask

Dramaturgy: Wiebke Hetmanek

Choreography: Valentí Rocamora i Torà

Lighting Design: Thomas Schlegel

Premiere on November 5th 2023 conducted by: Jan Croonenbroeck

Cast: Ivan Krutikov, Andromahi Raptis, Sergei Nikolaev, Sara Šetar, Nicolai Karnolsky, Anna Bychkova, Jang Joohoon (장주훈); Staatsphilharmonie Nürnberg; Choir of the Staatstheater Nürnberg; Dancers: Chayan Blandon-Duran, Moe Gotoda, Andrii Punko, Tirza Ben-Zvi, Stella Covi, Davide Troiani; Glass harmonica: Friedrich Kern

In Italian with surtitles in English and German.

Duration: 2 hours 20 minutes, one interval

For more info and tickets, click here.

by Svenja Plannerer

Title & pictures: Ludwig Olah