Unsere Autorin Svenja hat ein Praktikum am Staatstheater Nürnberg gemacht. Passend zu unserem Kulturtag kommt hier ihr Erfahrungsbericht!

Am Freitag zuvor – 08.11.2019

Ich treffe zur Vorbereitung den Regieassistenten. Er zeigt mir die Probebühne, auf der das Bühnenbild aufgebaut ist, händigt mir eine schicke schwarze Kladde mit der Textfassung zum Stück aus; ich kriege sogar einen Ausweis, mit dem ich durch die Schranke am Eingang der Pforte komme (auch wenn es nur ein Gastausweis ist, komme ich mir damit auf einmal wahnsinnig professionell vor).

Letzter Stopp – die Teeküche. Hier bestätigt sich nun auch das Praktikanten-Klischee schlechthin: Ich darf jeden Morgen Kaffee kochen (und gegebenenfalls abends auch).
Naja. Was tut man nicht alles für die Kunst, gell?

Tag 1 – 11.11.2019

Praktikantin zu sein, gerade an einem so geheimnisumwitterten Ort wie dem Theater, wo alles von Natur aus groß und dramatisch ist, kann schon ein bisschen einschüchternd sein. Obwohl ich schon seit mehr als drei Jahren regelmäßig selbst auf diesen Probebühnen herumgeistere (im Rahmen des Samstagsklubs), in der Oper als Ankleidehilfe gearbeitet habe und eigentlich weiß, was hier welcher Schall und welcher Rauch ist, bin ich unheimlich aufgeregt.

An diesem Morgen treffen sich zwischen elf und 14 Uhr (Raucherpause inklusive) alle, die an der Produktion beteiligt sind: Regie, Ausstattung, Kostüm, Musik, Dramaturgie, Souffleuse. Das Stück „Kaspar“ ist eine Übernahme, das heißt die Inszenierung wird nicht vollständig neu entwickelt, sondern es wird mehr erinnert – wie war das damals, 2013, als die Inszenierung neu war? Was bleibt gleich, was soll sich ändern? Einer der drei Schauspieler, die auf der Bühne stehen werden, ist neu dabei und hat das Stück noch nicht gespielt. Zunächst lesen sie den Text vor.

Autorin Svenja auf der Bühne

Dieser besteht aus Wortakrobatik und Satzknoten, dass es nur so schallert. Im Alltag sagt schließlich keiner einfach so von sich aus: „Aber der Stuhl ist kein Ekel, weil er sowohl der Tisch als auch das Schuhband ist. Und das Schuhband ist kein Ekel, weil es sowohl kein Stuhl als auch kein Tisch als auch kein Besen ist.“ Oder „[…] ein Stuhl auf dem du sitzt, ist ein Schrank – naja, sobald er mit einem Schlüssel zu öffnen ist und Geschirr darinsteht.“ Oder „[…] das Wehtun beim Fallen ist halb so schlimm, seit ich weiß, dass man über mein Fallen sprechen kann; aber das Fallen ist doppelt so schlimm, seit ich weiß, dass man über mein Fallen sprechen kann.“
Auf den Lippen der drei Darsteller wird es aber zu einer doch ziemlich plausiblen Unterhaltung.

Der Regisseur macht klar: Das Stück, oder vielmehr sein Autor, Peter Handke, soll nach der diesjährigen Verleihung des Literatur-Nobelpreises nicht unkommentiert bleiben. Dieser schrieb in den 90er Jahren nach den Jugoslawien-Kriegen und einer Serbien-Reise das Buch „Gerechtigkeit für Serbien“, in welchem immer wieder Formulierungen auftauchen, die die Grausamkeiten der serbischen Aggressor*innen relativieren. Er hielt außerdem auf dem Begräbnis des zu Kriegszeiten regierenden Diktators Slobodan Milošević eine Rede. In darauffolgenden Interviews und Schriften versuchte Handke mehrmals, sich unelegant herauszureden; sich dahinein zu retten, dass er ja nur Schriftsteller sei, der berichtet, was er sieht, hört und fühlt. In den Medien wurde und wird daher die Entscheidung des Nobelpreis-Komitees scharf kritisiert. Also soll das Stück aktualisiert werden.
Am Abend findet ab 19 bis 22 Uhr noch eine Probe statt, bis ich zu Hause bin ist es 23 Uhr, bis ich im Bett bin halb 12.

Tage 2 bis 4 – 12. bis 15.11.2019

Jeden Morgen um sieben Uhr aufzustehen wird mit Fortschreiten der Woche schwieriger. Bis ich mich an diesen Tagesrhythmus gewöhnt haben werde, wird das alles auch schon wieder vorbei sein.

Ich bin – wieder einmal – überwältigt von den vielen Details, die es zu beachten gilt und bestaune die kreative Leistung der Schauspieler. Immer wieder werden zwischen ihnen und dem Regisseur angeregte Diskussionen über Handkes Äußerungen zu den Jugoslawien-Kriegen geführt. Ich verfolge, wie leicht sich durch geringfügig verschiedene Betonungen aus dem verschwurbelten Text Sinn aufbaut oder zerfällt. Zudem lerne ich ein neues Wort: Haltung. Also, ich weiß natürlich, was „Haltung“ ist (aufrecht sitzen, Brust raus, Bauch rein), aber Haltung meint etwas anderes. Dass man sich überlegen muss, was in einer Figur vorgeht, während sie ihre Sätze spricht, ist ja allgemein bekannt. Sie kann ja nicht einfach Sätze sprechen. Doch die Bezeichnung in diesem Zusammenhang ist mir neu, Haltung. Schön.

Tag 5 – 15.11.2019

Heute wird sehr intensiv an der Aktualisierung des Stücks gearbeitet. Es werden zusammen mit der Dramaturgin Buchausschnitte aus „Gerechtigkeit für Serbien“, Interviewäußerungen und -fragen von und an Handke gesichtet und zusammengefügt. Auf der Probebühne wird herumprobiert, wie man das Ganze unterbringen könnte. Die Stelle im Stück ist klar, der szenische Rahmen auch, jetzt geht es um mögliche Abläufe und Haltungen.

Die Mittagspause – das heißt die fünf Stunden zwischen 14 und 19 Uhr – überbrücke ich in der Kantine mit meinem Laptop, heimfahren lohnt sich nicht. So ein bisschen Unizeug erledigen (oder mir zumindest einreden, dass ich das tue). Unerwartet kommt ein Freund aus dem Theaterklub vorbei, und wir tratschen ein bisschen, was meine in dieser Zeit ermattete Stimmung deutlich hebt.

In der Abendprobe wird die Szene vom Vormittag wiederholt. Es wird ein bisschen früher Schluss gemacht, denn heute ist „Bergfest“ – Halbzeit, sozusagen. In etwa die Hälfte der Probenzeit ist „über den Berg“, und das muss natürlich gefeiert werden. In der Kantine werden Anekdoten und Meinungen ausgetauscht und ein bisschen Bier getrunken. Ich komme um 12 nach Hause und schlafe bis halb acht am nächsten Morgen.

Tag 6 bis 8 – 18. bis 20.11.2019

Die Produktion zieht von der Probebühne auf die große Bühne im Schauspielhaus um. Mit Technik, Beleuchtung, Ton, Kostüm, Bühnenbild, Regie, Souffleuse, geht es durch das Stück, einmal und immer wieder von vorne bis hinten, um Positionen und Gänge auszuprobieren, Markierungen zu machen und Ton-Cues zu klären. Dabei kann ich von der Fähigkeit des Regieassistenten, immer den Überblick über alle Abteilungen zu behalten, nur schwer beeindruckt sein.

Tag 9 – 21.11.2019

Aufgrund einer Verletzung einer der Darsteller komme ich als sein spontaner Ersatz in den Genuss, selbst mal auf der Bühne zu stehen. Über die Qualität meines Einsatzes will ich schweigen, aber der Perspektivenwechsel ist…aufschlussreich, geradezu erhellend. Logisch, von der Bühne sieht alles ganz anders aus, auch weil mich das Licht der Scheinwerfer blendet und ich so über den Bühnenrand hinaus nichts mehr erkennen kann. Die beiden anderen Schauspieler lassen dann ihre Wortgewalt über mich hereinbrechen: Anfänglich wohlwollende Nachsicht entwickelt sich zu entnervter Frustration und schließlich zu einer regelrechten Satzflut, …

(„Und schon hast du einen Satz. Mit dem du dich hier bemerkbar machen kannst. Du kannst dich mit dem Satz zum Beispiel auch im Dunkeln bemerkbar machen, damit man dich nicht für ein Tier hält. […] Du kannst dich mit dem Satz auch einfach nur zu Wort melden. […] Ja, du kannst dich mit dem Satz auch dumm stellen. […] Du hörst hier doch die ganze Zeit Sätze! […] Such dir mal nen anderen Satz! Los! Such! Such nen anderen Satz! SuchsuchsuchSUCH!“)

…und der Instinkt, mich davor schützen zu wollen, setzt ein. Kein Wunder, dass da der Figur Kaspar die Sprache erstmal verloren geht.

Tag 10 – 25.11.2019

Nachdem ich über das Wochenende an einem Journalismus-Seminar teilgenommen habe und deswegen auch die AMA verpassen musste (sprich eine „Alles mit allem“, ein erster Durchlauf mit allen Kostümen, Umzügen, Musik, Licht, usw.), bin ich froh, wieder da zu sein.

Die Dramaturgin ist für die gesamte Woche krank geschrieben; ihr Kollege wird in die Materie im Crashkurs eingearbeitet, weil die (eingangs erwähnte) neue Szene noch in Bearbeitung ist…

Tag 11 bis 13 – 26. bis 28.11.2019

…mit Erfolg – der Text wird endlich festgelegt, die Haltung entwickelt, die Abläufe verfestigt. Allerdings ohne mich, denn mir passiert genau das, wovon ich gehofft hatte, es würde nicht passieren: Ich werde krank und falle für drei Tage aus, verpasse die erste Hauptprobe. Großartig. Dafür schleife ich mich sobald ich kann wieder ins Schauspielhaus, auch wenn ich dabei eher weniger glamourös aussehe.

Da jetzt offiziell Endprobenzeit ist, so informiert mich der Regieassistent, dürfen offenbar Flachwitze gemacht werden (soll heißen, mehr und flacher als vorher). Wer schlechte Memes lustig findet (so wie ich), ist hier gut bedient.

Tag 14: 29.11.2019, Generalprobe

Heute ist Testpublikum dabei, einige davon kenne ich aus dem Theaterklub. Die sind nach dem Besuch des Stücks erst mal ziemlich fertig mit der Welt. Einer hat den Sinn gar nicht kapiert und zweifelt an seinem Verstand; andere fragen sich, warum man sich denn überhaupt fragen muss, ob der Stuhl steht oder umgefallen ist, wenn er doch ganz klar steht. Sieht man doch! Ich freue mich diebisch über die Verwirrung.

Tag 15: 30.11.2019, Premiere

Ich bin schon nach dem Aufstehen super nervös, obwohl es ja gar nicht ich bin, die auf die Bühne muss. Den ganzen Tag über bin ich leicht abzulenken, schweife in Gedanken ab; mache währenddessen die letzten Handgriffe an meinen Premierengeschenken. Natürlich werde ich dem Klischee gerecht und fange viel zu spät an, mich präsentabel zu machen und komme in meiner gewohnt chaotischen Ordnung gerade noch rechtzeitig.

Hinter der Bühne ist schon allerhand los, die Kostüme liegen bereit, die drei Schauspieler sind fertig angezogen. Es wird sich gegenseitig bespuckt (nicht wirklich natürlich, sondern mit einem „toi toi toi“ der böse Geist des Murphy’s Law vertrieben) und Premierengeschenke werden ausgetauscht. Ich wundere mich ein bisschen, dass so viele Leute zu mir „Danke“ sagen – als Praktikantin habe ich nicht viel mehr gemacht als zuzuschauen. Aber gut. Ich hab es ja gern gemacht, sehr gern sogar.

Zwischendurch muss ich meine etwas verlorene Mutter, die sonst nicht wirklich ins Theater geht, einsammeln. Und verliere sie wieder, bis ich feststelle, dass sie schon im Zuschauerraum sitzt.

Dann geht’s los.

Nach einer höchst gelungenen Vorstellung, viel Applaus, und großer Erleichterung wird sich erst im Foyer unterhalten, dann in der dritten Etage ungehalten getanzt (sogar ich, die sonst eine entschlossene Tanzflächenverweigerin ist, lasse mich hinreißen) und dann in der Kantine getratscht.

Um etwa drei Uhr morgens verabschiede ich mich. Mein Gastausweis funktioniert am Drehkreuz an der Pforte nicht mehr – der ist um Mitternacht abgelaufen. Müde, aber glücklich und mit dem Song aus dem Stück im Ohr („Jeder muss frei sein…jeder muss dabei sein…“) fahre ich nach Hause.

Der Tag danach – 01.12.2019

Ich stehe sehr spät auf, esse übrig gebliebene Pancakes zum Frühstück und vergieße prompt ein paar Tränen, weil ich weiß, dass ich am Montag nicht um zehn Uhr auf irgendeiner Probebühne aufkreuzen kann, sondern wieder in die Uni muss. Mir schweben den ganzen Tag Text- und Musikfetzen im Kopf herum.

Am selben Abend trete ich bei einer Lesebühne auf…

(Zum Warmsprechen beim Soundcheck sage ich ins Mikrofon: „Von Geburt an ist uns allen eine Fülle von Fähigkeiten gegeben. Eine F-F-FFülle von Fähigkeiten gegeben. Jeder ist für seinen eigenen Fortschritt verantwortlich. Jeder ist für seinen eigenen Fort-Schritt verantwortlich“ und so weiter, meine Freund*innen sehen mich nur verständnislos an.)

…und es wird vorgeschlagen, noch Stühle und Tische in den Raum hereinzutragen. Nachdem ich jetzt drei Wochen lang gehört habe, wie darüber verhandelt wird, ob dieser Stuhl steht, umgefallen ist, steht und umgefallen ist oder ob der Stuhl umgefallen ist und der Tisch steht, kann ich diese Worte nicht mehr hören (und sehne mich doch nach ihnen zurück).

Schlussfolgerungen

(Alte Theaterweisheit: Text lernt man am besten, indem man ihn unter das Kopfkissen legt – funktioniert aber nur mit Daunen-, nicht mit Polyesterfüllung.)

Lieblingswort des Regieassistenten: guti [ju:ti] (Berliner Pendant zum fränkischen „bassd“).
Lieblingsworte des Regisseurs: elegant, prätentiös.
Lieblingsworte der Darsteller, wenn sie ihren Text vergessen haben: „Nee. Was?“, „Hä?“ und „Ach, ficken!“

Auch wenn ich nur einen „Schnelldurchlauf“ eines Inszenierungsprozesses erlebt habe, bin ich ganz hingerissen von der Atmosphäre am Theater. Ich weiß jetzt, was ich will (nein, nicht still sein, sondern!). Wo ich vorher noch zweifelte, dass das Theater ein Ort für mich sein könnte, ist jetzt frohe Gewissheit. (Die Müdigkeit ist es allemal wert.)

Theater ist keine Magie, aber irgendwie, ja, irgendwie schon.

Von Svenja Plannerer