Warum Privilegien manchmal unsichtbar sind – aber es nicht bleiben müssen

Vor kurzem habe ich in einem Seminar ein kleines Experiment durchgeführt. Ich zeigte den Studierenden die folgenden vier Grafiken und bat sie, diese zu beschreiben.

Bildquellen s.u.

„Frauen verdienen im Laufe des Lebens weniger als Männer.“, sagte die erste Studentin.

„Frauen leisten mehr Betreuungsarbeit als Männer.“, sagte die zweite Studentin.

„Männer verdienen pro Stunde mehr als Frauen.“, sagte die dritte Studentin.

„Frauen leisten mehr Haus- und Familienarbeit als Männer.“, sagte die vierte Studentin.

Ich notierte die Beschreibungen (die natürlich alle richtig waren) auf einer PowerPoint-Folie und schob dann den ersten, den zweiten und den vierten Satz auf die linke Seite der Folie und den dritten Satz auf die rechte Seite der Folie. Dabei freute ich mich insgeheim, dass die Studierenden die Grafiken genauso beschrieben hatten, wie ich es vorausgesehen hatte. (Häufig gehen solche Übungen in einer kleinen Gruppe ja auch nach hinten los und die Studierenden antworten ganz anders, als die psychologische Forschung, die ich im nächsten Teil der Sitzung besprechen wollte, voraussagen würde.) Als ich fertig war, fragte ich die Studierenden, ob ihnen an diesen Sätzen irgendwas auffiel.

Jetzt, wo die Sätze so fein säuberlich getrennt dastanden, war es ziemlich offensichtlich.

„Bei den drei Sätzen links geht es um Benachteiligungen von Frauen, und bei dem Satz rechts geht es um die Vorteile von Männern.“, sagte die erste Studentin sofort.

„Richtig.“, sagte ich.

Der Fokus lässt sich auch umdrehen

Aber könnten wir die drei Sätze über Frauen nicht genauso gut umdrehen, und stattdessen anhand derselben Grafik die Vorteile von Männern beschreiben? Statt zu sagen, dass Frauen im Laufe des Lebens weniger verdienen, könnten wir doch auch sagen, dass Männer im Laufe des Lebens mehr verdienen als Frauen. Und, dass Männer weniger Betreuungsarbeit und weniger Haus- und Familienarbeit leisten als Frauen. Die Information, die wir damit aus den Grafiken herauslesen würden, bliebe genau die gleiche – zumindest aus einer logischen Perspektive.

Aber bei den Zuhörenden kommt natürlich etwas ganz Anderes an, wenn ich über die Nachteile von Frauen oder die Vorteile von Männern spreche. Wenn ich zum Beispiel selbst keine Frau bin, fühle ich vielleicht Mitleid mit Frauen, wenn ich höre, dass sie auch heute noch im Berufsleben benachteiligt werden. Das Ganze hat aber nicht viel mit mir selbst zu tun. Wenn ich aber selbst ein Mann bin, und etwas über die Privilegien von Männern höre, muss ich mir plötzlich eingestehen, dass meine eigene Position Teil des Problems ist. Wenn ich bevorzugt werde, dann auf Kosten anderer, die benachteiligt werden.

Diese unterschiedlichen sprachlichen Formulierungen (Vorteile vs. Nachteile), die ich nutzen kann, um über Ungleichheit zu sprechen, werden auch Framing genannt. Was Framing genau ist und welche Effekte es in der politischen Kommunikation hat, könnt ihr in einem meiner früheren Artikel nachlesen (https://v-magazin.studierende.fau.de/2020/12/wie-sprache-unser-politisches-denken-beeinflusst/). Dort habe ich auch folgendes bemerkt: Es scheint, als würde es häufig um Benachteiligungen, Diskriminierung und Unterdrückung einiger sozialer Gruppen (z.B. Frauen*, Schwarze Personen, LGTBQIA+ Personen usw.) gehen, wenn wir über soziale Ungleichheit sprechen. Viel seltener wird aber über die Privilegien und Vorteile anderer Gruppen gesprochen (z.B. Männer, Weiße Personen, heterosexuelle und Cis-Personen usw.).

(An dieser Stelle sagte die dritte Studentin übrigens „Krass!“, was ich später meinem Bruder beim Abendessen erzählte, denn es kommt nicht alle Tage vor, dass jemand in meinem Seminar mit solchen enthusiastischen Ausrufen auf meine Ausführungen reagiert. Mein Bruder gab daraufhin übrigens zu Bedenken, vielleicht habe die Studentin im selben Moment eine WhatsApp-Nachricht zu irgendeinem neuen Film erhalten, und deswegen „Krass!“ gesagt. Aber diese Möglichkeit vergessen wir am besten gleich wieder.)

Sind Privilegien unsichtbar?

Viele Forschende und Aktivist:innen argumentieren (und kritisieren!), dass Privilegien oft unsichtbar bleiben, weil sie abstrakter und weniger leicht zu erkennen sind als Benachteiligungen. Die Idee von „unsichtbaren Privilegien“ besagt, dass privilegierte Personen ihre Position an der Spitze der sozialen Hierarchie für etwas Selbstverständliches halten – etwas, das sie weder bemerken, noch überdenken, noch kommentieren müssen. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass sie (in einem bestimmten Bereich oder in einer bestimmten Region) zahlenmäßig in der Mehrheit sind und häufiger in den Medien repräsentiert werden. Deswegen erfahren sie sich als das „Normale“ und werden selten daran erinnert, dass sie selbst auch Teil einer sozialen Gruppe sind.

Ein anderer Grund für die Unsichtbarkeit von Privilegien ist, dass es soziale Normen gibt, die uns davon abhalten, über sie zu sprechen. Insbesondere in den USA verfolgen etwa viele (Weiße) Menschen das Ideal von „Color Blindness“ (also „Farbenblindheit“). Das heißt, sie versuchen oder behaupten, gar nicht zu bemerken, ob eine Person Weiß ist oder nicht. Sie glauben (fälschlicherweise), schon das Bemerken von Rassifizierungen sei rassistisch. Dementsprechend lehnen sie es natürlich auch ab, über ihr eigenes Weiß-Sein zu sprechen.

Außerdem haben privilegierte Gruppen auch schlicht und einfach ein Interesse daran, dass ihre Privilegien unsichtbar bleiben. Die Auseinandersetzung mit Privilegien kann für sie nämlich gleich auf mehrere Arten bedrohlich sein. Erstens, wenn ich eingestehe, dass ich privilegiert bin, muss ich mir die Frage stellen, ob ich das, was ich im Leben erreicht habe, auch wirklich verdient habe. Habe ich mich gegen meine Mitbewerber:innen im Bewerbungsprozess wirklich nur deshalb durchgesetzt, weil ich so gute Qualifikationen habe? Oder hat es vielleicht auch eine Rolle gespielt, dass ich Weiß bin, dass ich keine körperliche Behinderung habe, oder dass ich während des Studiums unbezahlte Praktika machen konnte, weil meinen Eltern mich finanziell unterstützt haben? Zweitens steht meine soziale Gruppe ganz schön schlecht da, wenn ich zugebe, dass ich aufgrund meiner Gruppenmitgliedschaft in unserer Gesellschaft bevorzugt werde. Die meisten Menschen möchten, dass ihre soziale Gruppe als moralisch angesehen wird. Da kommt es nicht so gut an, wenn ich zugeben muss, dass meine Gruppe auf Kosten anderer Vorteile genießt. Drittens kann es auch materiell gefährlich sein, über meine Privilegien zu sprechen. Wenn erst mal alle merken, dass ich privilegiert bin, versucht am Ende noch jemand, mir meinen hohen Status wegzunehmen.

Leugnen oder Distanzieren machen Privilegien weniger bedrohlich

Wegen dieser Bedrohungen greifen privilegierte Personen häufig zu Abwehrstrategien, wenn sie von ihren eigenen Privilegien hören. Der Psychologe Eric Knowles und seine Kolleg:innen haben drei typische Reaktionen identifiziert, die Menschen (in westlichen, individualistischen Kulturen) zeigen, wenn sie auf ihre Privilegien hingewiesen werden. Zwei davon können erklären, warum sich (öffentliche) Diskussionen über Ungleichheit so häufig um Benachteiligungen, aber so selten um Privilegien drehen. Die erste Strategie ist es, Privilegien einfach zu leugnen. So könnte ich zum Beispiel behaupten, dass heutzutage die Finanzen der Eltern gar keine Rolle mehr für meinen beruflichen Erfolg spielen können – schließlich können ja alle Studierenden Bafög beantragen. Das stimmt zwar nicht, hat aber zur Folge, dass ich keinen Grund habe, über meine finanziellen Privilegien zu sprechen. Schließlich macht es wenig Sinn, über etwas zu diskutieren, was gar nicht existiert.

Die zweite Strategie ist es, zwar anzuerkennen, dass es Privilegien gibt, sich aber von ihnen oder von der eigenen sozialen Gruppe zu distanzieren. Ich könnte also behaupten, dass es schon stimmt, dass viele Weiße Personen im Beruf bevorzugt werden. Allerdings sei das bei mir ganz anders gewesen – ich musste mich für meinen Erfolg wirklich anstrengen. Und überhaupt, sei es ja gar nicht wichtig für mich, ob ich Weiß bin oder nicht. Auch in diesem Fall würde ich wahrscheinlich selten über meine Privilegien sprechen – ich würde schließlich glauben, sie hätten in meinem persönlichen Leben keine Rolle gespielt.

Damit schließt sich der Kreis – privilegierte Personen neigen aus verschiedenen Gründen dazu, nicht über Privilegien zu sprechen. Gleichzeitig haben sie oft mehr Macht als andere soziale Gruppen, den Diskurs (über Ungleichheit) zu formen. So wird etwa die Mehrzahl der großen Tageszeitungen und Nachrichtenportale in Deutschland von (Weißen) Männern geführt und die meisten Hollywood-Filme von (Weißen) Männern produziert. Das führt dazu, dass wir weiterhin viel häufiger von Benachteiligungen als von Privilegien hören.

Das Schweigen brechen – sind Privilegien schon längst bemerkbar geworden?

Allerdings gibt es laut Eric Knowles und seinen Kolleg:innen noch eine dritte Strategie, wie Menschen mit ihren Privilegien umgehen. Diese Strategie ist das Abbauen von Privilegien. Dabei handelt es sich eigentlich (sogar aus ganz eigennütziger Perspektive) um die optimale Abwehrstrategie. Während Leugnen und Distanzieren mich nur in meinen eigenen Augen davor schützen, als unmoralisch oder unverdiente Empfängerin von Vorteilen dazustehen, rückt das Abbauen von Privilegien mich auch vor anderen Personen in ein positives Licht. Meine soziale Gruppe muss ganz schön moralisch sein, wenn ich sogar dazu bereit bin, meine eigenen Privilegien abzubauen! Deswegen haben privilegierte Personen nicht nur aus altruistischen, sondern auch aus egoistischen Motiven gute Gründe, Ungleichheit verringern zu wollen. Zum Beispiel, indem sie politische Maßnahmen unterstützen oder an Protesten teilnehmen, die sich gegen ungerechtfertigte Privilegien wenden.

Trotzdem ist es nicht so einfach, sich für das Abbauen von Privilegien zu entscheiden. Die Strategie „Abbauen“ schließt nämlich die Strategien „Leugnen“ und „Distanzieren“ aus. Schließlich kann ich mich nicht für den Abbau von Privilegien einsetzen, wenn ich behaupte, sie würden gar nicht existieren oder wären nicht wichtig genug, um in meinem Leben eine Rolle zu spielen. Wenn ich mich also daranmache, gegen Privilegien vorzugehen, muss ich gleichzeitig zugeben, dass ich in der Vergangenheit von ihnen profitiert habe. Deshalb ist die dritte Strategie auch leider die seltenste.

Damit kommen wir zurück zur angeblichen „Unsichtbarkeit“ von Privilegien. Es gibt nämlich auch Argumente, die dafürsprechen, dass Privilegien sehr wohl (schon immer) bemerkbar waren und sind und auch (immer mehr) bemerkt werden. So arbeiten heute in Deutschland wahrscheinlich die wenigsten Männer in Berufen, in denen sie ausschließlich von anderen Männern umgeben sind. Und selbst wenn, werden sie im Privaten mit Frauen zu tun haben, die ebenfalls berufstätig sind – im Arbeitsalltag jedoch häufig aufgrund ihres Genders anders behandelt werden.

Außerdem haben heute die meisten Menschen Zugang zu globalen Massenmedien. So würden zum Beispiel selbst Weiße Personen, die in einer Region leben, in der sie fast nie Nicht-Weiße Menschen begegnen, regelmäßig im Internet, in Filmen oder in den Nachrichten auf Nicht-Weiße Personen treffen. So haben inzwischen auch viele in Deutschland von Protesten wie der BlackLivesMatter- oder der MeToo-Bewegung oder Begriffen wie „White Privilege“ oder „Male Privilege“ gehört. Außerdem gibt es natürlich auch soziale Normen und Ideologien, die genau das Gegenteil von Unsichtbarkeit fordern, wenn es etwa um Unterschiede in Gender, Religion, Nationalität, Rassifizierung, Sexualität geht. Viele Menschen sind heute schließlich der Meinung, dass Diversität anerkannt und respektiert, nicht unter den Teppich gekehrt und ignoriert werden sollte.

Wenn du also nicht davor zurückschreckst, dich mal mit deinen eigenen Privilegien auseinanderzusetzen, dann sei dir diese (https://www.buzzfeed.com/regajha/how-privileged-are-you) Checkliste auf Buzzfeed empfohlen. Hier kannst du eine lange Liste von Privilegien durchlesen, die vielleicht auch du aufgrund von Gender, Sexualität, Gesundheit, finanzieller Situation usw. genießt. Schließlich sind wir alle Mitglieder sozialer Gruppen – sowohl von solchen, die in der Gesellschaft benachteiligt, als auch von solchen, die bevorzugt werden. Diese Privilegien können nicht nur dazu eingesetzt werden, den eigenen Vorteil zu schützen oder unsichtbar zu machen – sondern auch dazu, Ungleichheit in Frage zu stellen und etwas gegen sie zu unternehmen. Dir einzugestehen, dass Privilegien existieren, und dass wahrscheinlich auch du manchmal von ihnen profitierst, ist der erste Schritt dazu.

Von Annette Malapally

Literatur

Knowles, E. D., Lowery, B. S., Chow, R. M., & Unzueta, M. M. (2014). Deny, distance, or dismantle? How white Americans manage a privileged identity. Perspectives on Psychological Science9(6), 594-609. https://doi.org/10.1177%2F1745691614554658

Bildquellen v.l.n.r.:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/maerz/die-grosse-kluft-frauen-verdienen-im-leben-nur-halb-so-viel-wie-maenner

https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-coronakrise-verscharft-soziale-ungleichheit-25092.htm

https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_088_621.html

https://www.workzeitung.ch/2017/04/mehr-erwerbstaetige-frauen-weniger-ungleichheit/